Inhalt und Frucht unseres Lebens.

Eine Silvester-Andacht für unsere Erzgebirgler beim Anblick erzgebirgischer Schnitzwerke.

Pyramide
In 3 Jahren mit der Hand geschnitzte Weihnachtspyramide in Ehrenfriedersdorf.

Wir kommen von Weihnachten her — da begegnet uns das neue Jahr. Es ist, als wenn die beiden hohen Feste ganz eng zusammen gehörten, und wenn wir’s näher betrachten, dann kann es auch nicht anders sein. Gerade wir Erzgebirgler, die wir unsere alten Weihnachtssitten und Gebräuche hochhalten, finden den Weg von Weihnachten hinüber ins neue Jahr gewiß sehr bald. Die alten erzgebirgischen Schnitzereien, Pyramiden und Weihnachtskrippen sind es wieder, die uns Wegweiser von der alten in die neue Zeit werden können. Vor allem ist es der alte fromme Meister Hertelt in Oberwiesenthal, der in seiner Darstellung der biblischen Geschichte durch holzgeschnitzte Figuren über die Geburt im Stall zu Bethlehem weit hinausgegangen ist. Wir sehen’s an der Weihnachtskrippe, die unten im Frohnauer Hammer ausgestellt ist, wir sehen es an vielen anderen Krippen, die unser frommer Meister, der nun längst schon oben am Fichtelberg unter weißer Schneedecke schläft, als ein schönes Erbe hinterlassen hat. Da ist Herodes Schloß zu schauen, die Kriegsknechte und die Verfolgung der Kindlein, Maria und Josefs Flucht nach Aegypten — aber einigen wenigen seiner Weihnachtskrippen hat der fromme Meister Hertelt auch die Darstellung Jesu im Tempel mitgegeben. Auf hohen Säulen ruht des Tempels Dach. Ein heiliges Lämpchen brennt vor dem Allerheiligsten, hohe Priester stehen davor — und sieh, wie genau Meister Hertelt das alles nach der biblischen Geschichte geschnitzt hat; hier ist auch die alte brave Hanna und dort der alte Simeon mit dem Jesusknaben. Bei dieser Gestalt in unserer Weihnachtskrippe müssen wir einmal stehen bleiben, wenn wir den Weg von Weihnachten hinüber in das neue Jahr finden wollen. Die ehrwürdige Gestalt des Simeon ist wie die Gestalt des alten scheidenden Jahres. Aber auf den Schluß seines Lebens fällt ein helles Licht von dem Christkindlein. Nicht wahr, mit dem scheidenden Jahre blicken auch wir heute auf einen Abschnitt unseres Lebens zurück —, so wollen denn auch wir beim Anblick der Darstellung Jesu im Tempel in unserer Weihnachtskrippe unser Leben nach seinem Inhalt und nach seiner Frucht betrachten.

Wir entnehmen dazu den Text einer Silvester-Predigt des Pastors Hermann Friedrich Schmidt von der deutsch-evangelischen Kirche in Cannes: „Und siehe, es war ein Mensch zu Jerusalem mit Namen Simeon, und derselbe Mensch war gottesfürchtig und wartete auf den Trost Israels, und der heilige Geist war auf ihm. — Ein Leben in Rechtschaffenheit und Gottesfurcht ist etwas Köstliches. Bist Du auch rechtschaffen in all Deinem Tun? Ist Deine Losung: „Schlecht und recht, das behüte mich,“ hast Du Gott vor Augen und im Herzen und hütest Dich, in irgend eine Sünde zu willigen? Nimm es heute ernst mit dieser Frage. Prüfe Dein Leben nach den zehn Geboten, frage Dich: wie ehre oder unehre ich den Namen Gottes, wie heilige ich seinen Tag, sein Wort, wie erfülle ich meine Pflichten gegen Eltern, Herrschaften, Obrigkeiten und das Vaterland, wie hoch achte ich das Leben und die Gesundheit und das Eigentum und den guten Namen meines Nächsten, wie steht es um Keuschheit und Zucht, um die Heilighaltung der Ehe? — Aber von Simeon wird uns noch mehr erzählt. Jene Worte zeichnen nur die äußere Gestalt seines Lebens. Es ist doch traurig, wenn von einem Menschen weiter gar nichts zu sagen ist, als daß sein Leben äußerlich rechtschaffen sei, wenn jede Sehnsucht nach einem reinen Herzen, nach Gemeinschaft mit Gott, nach ewigem Leben ihm fremd ist. Das erst macht uns den Simeon so ehrwürdig, daß ein hohes, heiliges Hoffen seine ganze Seele erfüllt und die eigentliche Spannkraft seines Lebens ist — er wartete auf den Trost Israels. Und dieses sehnliche, brünstige Warten, was den Mittelpunkt seiner Gebete ausmacht, ist seiner Erfüllung gewiß. Es gibt ihm nicht das Gepräge der Ungeduld, sondern des Friedens. „Und ihm war eine Antwort geworden von dem heiligen Geist, er sollte den Tod nicht sehen, er hätte denn zuvor den Christ des Herrn gesehen.“ Was viele Propheten und Könige begehrten zu sehen und haben es nicht gesehen, das soll er nun sehen. So wird sein ganzes Leben von dieser großen Hoffnung beseelt, erwärmt und verklärt. Eine wunderbare Weihe muß dies heilige Geheimnis, das der Gottesmann in sich trug, seiner ganzen Erscheinung verliehen haben. Der innerste Gehalt seines Lebens ist ein gewisses Warten auf das Höchste und Heiligste, was es gibt — auf das Heil Gottes, auf das Erscheinen dessen, der der Trost Israels, der Preis, die Krone Israels und das Licht der Heiden heißt, der Frieden, Licht, Leben und Heil ihm und aller Welt bringt.

Liebe Seele! Auch Dein Leben ist Warten und Hoffen, ja meist ein langes Warten; dann eine kurze Freudenszeit über die Erfüllung Deiner Hoffnung, um neuem Warten Platz zu machen. Der Geburt des Kindes geht eine ernste Wartezeit voraus. Es folgt ein Warten auf das erste Gehen, das erste Sprechen, ein langes Warten auf die Vollendung seiner Ausbildung zum Berufe, auf den Beginn des Berufes, auf die Begründung des eigenen Hausstandes. So lebt der Mensch immer und vor allem in der Zukunft.

Aber wenn dieses Warten, das den äußern Bestand des Lebens ausmacht, die ganze Seele erfüllt, dann ermattet sie bald in diesem ewigen Kreislauf, um in die Klage des Predigers einzustimmen „alles ist eitel“. Dann klammert sich das arme Herz krankhaft an das rasch dahineilende Leben und die Furcht vor dem Tode wirft ihre düstern Schatten in jede Freude. Aber wie nun erst, wenn diese Hoffnungen sich nicht erfüllen? Dann zieht so leicht mit der Enttäuschung die Herbheit und Bitterkeit in das Herz. Nein, den rechten Inhalt unseres Lebens kann nur ein Warten ausmachen, das seiner Erfüllung gewiß ist, ein Warten nicht auf ein vergängliches, sondern auf ein göttliches Gut. Das ist das Warten und Trachten und sehnende Ausschauen nach dem Himmelsreiche und seiner Gerechtigkeit, nach dem Himmelreiche und dem, der es uns bringt, dem Troste Israels und aller Menschen. Wohl ist er erschienen und das Heil vorhanden. Aber ist er auch Dir erschienen und offenbar geworden als Dein Heiland? Hat er Dich erlöst von Deiner Schuld, von Deiner Selbstsucht und richtet sich nun all‘ Dein Sehnen und Verlangen darauf, immer inniger mit ihm vereinigt zu werden, immer mehr zu wachsen in seiner Gnade und Erkenntnis und ihm immer ähnlicher zu werden? Trägst Du diese Gewißheit: ich werde den Herrn einst erkennen, wie ich von ihm erkannt bin, und ganz in sein Bild verklärt werden, als ein seliges Geheimnis in Dir, als einen kostbaren Schatz in dem zerbrechlichen Gefäße Deines Leibes, der Dich allen Seelen, die aus der Wahrheit sind, teuer und ehrwürdig macht? Das Leben der ersten Christen war ein Warten auf den Herrn und eine Bereitung auf den Tag seiner Wiederkunft, ein Entgegeneilen Jesu. Es macht keinen Unterschied, ob der Herr im Tode Dich zu sich ruft oder im Leben Dich überrascht — Du solltest sprechen können, während die Welt über das rasch dahinschwindende Leben klagt:

Gott Lob, ein Schritt zur Ewigkeit
Ist abermal vollendet,
Zu Dir im Laufe dieser Zeit
Mrin Herz sich sehnlich wendet.
Ich leb‘ in Dir und Du in mir,
Doch möcht‘ ich, o mein Heil, zu Dir
Noch immer näher dringen.

Wartest du mit Sehnsucht, ihm Dein Kind darzustellen und es ihm zu übergeben in der heiligen Taufe, schaust Du aus nach den ersten Regungen seines Geistes, nach seinem ersten Fragen nach Gott und Beten zu Gott, und freust Du Dich des Tages, da sich auch in ihm das Kindlein Christus erkennen lassen wird?

Wartest und wirkst Du darauf hin, daß Christus in Deiner Ehe sich offenbare und verherrlicht werde, daß Dein Haus eine Hütte Gottes bei den Menschen sei, daß Christus die Krone Deines Volkes und durch ihn Dein Volk zu einem Lichte der Heiden und nicht zu einem Ausbeuter und Schänder der Heiden werde? Was hast Du Christ im vergangenen Jahre für die Heiden getan, was Du Geretteter für die Verlorenen, Du Glücklicher für die Unglücklichen? Verlangt es Dich sehnlich, die Gestalt Jesu zu erblicken in den Geringsten und Elenden, die er doch seine Brüder nennt, oder erfüllt Dich der Reichtum mit Menschenverachtung? Liegt es Dir am Herzen, Deinem Umgange, Deinem Berufe das Gepräge seines Geistes zu geben, und trägst Du die selige Gewißheit in Dir, daß diese Deine Hoffnung nicht zu Schanden werden wird? Sieh, solches Leben ist lebenswert — über ihm leuchtet das Wohlgefallen Gottes — ja es ruht im ewigen Leben und von dem geheimnisvollen Glanze Christi geht etwas auf dasselbe über.

Simeon erblickt am Abend seines Lebens den Heiland der Welt — freilich mit Glaubensaugen — er sieht ihn als Säugling und nicht in der Ausübung seines Berufes. Sein tiefstes Sehnen ist gestillt. Seine Hoffnung ist nicht zu Schanden geworden, er hält das selige Kind in seinen Armen und bricht aus in den Lobgesang: „Herr nun, nachdem ich so lange geharrt, lässest Du Deinen Diener in Frieden fahren.“ — Er hat seinen und Israels Heiland wirklich geschaut — der tröstet ihn ob aller Sünden und Gebrechen, er leuchtet ihm durch Todesdunkel und wird ihm zum Preis und zur Krone am Tage des Gerichts.
Kennst auch Du, liebe Seele, dieses „Nun“ gestillter Sehnsucht? O, gewiß, es ist etwas Schönes um ein in Gottesfurcht verbrachtes Leben, dem auch der irdische Segen nicht fehlt — wenn Du erreicht, was Du ersehnt und was Tausende trotz aller Mühe nicht erreichen, wenn Du für die Deinen hast sorgen, wenn Du Deinem Hause, Deinem Volke und der Menschheit hast Gutes stiften können; wenn so mancher Lieblingswunsch, von dem Du gesagt, nur das möchte ich noch erleben, Dir erfüllt wird und Du in ähnlicher Weise wie Jakob, als er seinen Sohn Joseph wiederfand, sprechen kannst: „Nun will ich gerne sterben, denn meine Augen haben Dich gesehen, daß Du noch lebest.“ Danke Gott heute von Herzen dafür. Aber wähne nicht, daß damit des Lebens höchster Preis gewonnen sei. Was hilft es Dir, die Kinder um Dich zu haben und sie im Leben geehrt und glücklich zu sehen, wenn Dir und ihnen der Heiland nicht lebt, der dem Tode die Macht genommen hat? Was hilft es Dir, alle Aufgaben erfüllt zu haben, aus denen doch immer neue erwachsen, und deren keine, am wenigsten die Arbeit an Dir selbst je zum Ende kommt, wenn Du nicht sprechen kannst: meine Augen haben den Heiland geschaut, dessen Gnade mein einziger Trost ist, der gut macht, was ich versehen, der vergibt, was ich gefehlt, der meine Mängel deckt und meine Unvollkommenheit zur Vollkommenheit führt!? Wenn Du ihn der Welt und Deinem Volke hast kommen sehen, wenn Du ihn in vielen, die Dir lieb und teuer sind, geschaut hast, ob auch nur als Kind — dann ist Dein Leben gewonnen, dann wirst Du doch, ob jung oder alt, ob nach schwerem oder leichtem Todeskampfe, sprechen können: „Herr, nun lässet Du Deinen Diener in Frieden fahren.“ Er macht uns auch das dunkle Todestal licht, und wenn er hier unseres Herzens höchster Preis und unsere Krone geworden ist, so wird er es auch vor dem Richterstuhle sein. — Und so trauern wir denn heute nicht über das dahineilende Jahr, sondern preisen es als ein Jahr, das uns Heil gebracht, und bangen nicht vor der Zukunft, sondern rühmen: Jesus Christus ist derselbe gestern und heute in Ewigkeit, und ob auch Berge weichen und Hügel hinfallen, so wird doch seine Gnade nicht von uns weichen und der Bund seines Friedens nicht hinfallen.

Amen!

Erzgebirgische Heimatblätter Nr. 1 – Sonntag, den 1. Januar 1928, S. 1