Die Eisjungfrau.

Weihnachts-Erzählung aus dem Erzgebirge von Ch. Engel.

Tiefer, ja beinahe märchenhafter Frieden lag da auf der Erde, denn es war am Weihnachtsheiligabend, und diese war mit dichtem Nebel bedeckt, jenem kalten, feuchten Nebel, der jedes vorspringende Hälmchen und Spitzlein, sowie alle Bäume und Sträucher unter den phantastischen Gebilden des Rauhreifes erstarren läßt. Kein Lüftchen bewegt sich, nur aus dem Stübl des Schlettenbergbauern schwebten in munterem Tempo die Klänge einer Ziehharmonika, die der halberwachsene Sohn des Hauses spielte, und die jüngeren Geschwister, sowie Frieda und Rösel, die beiden Mägde, sangen dazu:

„Horcht när amol in’n Ufntup
Dos Rumpeln und dos Geign!
Wos werd dos ze bedeiten han?
Gewieß a Haus vull Leingn.“

Sie beendeten damit das Lied vom „Heiling Ohmd“, das alle Gebräuche und Gepflogenheiten des Erzgebirglers am Weihnachtsabend besingt, und hatten sich nicht das geringste dabei gedacht, doch vom äußeren Ende der Ofenbank her ließ sich eine ängstliche Stimme vernehmen: „Singt doch net asu gottlus, Ihr fordert ja’s Schicksal orndlich raus!“ Aber die tugendlose Jugend kehrte sich nicht daran.

„Heiri, heira! Gewieß a Haus vull Leingn“, wiederholten sie übermütig den Kehrreim des Liedes nun gerade erst recht. Und um das Maß voll zu machen, hörte man es mit einem Male recht laut und vernehmlich im Ofentopfe rumpeln: „Burumm – schrumm, schrurumm – bumm!“

Bruno, der ängstliche Warner von vorhin, fuhr entsetzt in die Höhe, und auch der Bauer, der, unter der offenen Tür der nebenanliegenden Wohnstube stehend, den Refrain mit gesungen hatte, sowie Helene und Martha, seine beiden jüngsten Kinder, schwiegen betroffen. Doch Frieda, die Hausmagd, die mit dem Eßgeschirr hinter dem großen Kachelofen herumhantierte, lachte verstohlen in sich hinein und legte zum Ueberfluß einige recht dicke, knorrige Scheite harten Holzes auf das Feuer, so daß es im Ofentopfe, den sie schon bis zur Hälfte ausgeschöpft hatte, nicht nur rumpelte und geigte, sondern auch puffte und zischte wie in einem Dampfkessel.

„Dos hieht net miet rachten Dingn zu“, stöhnte Bruno, „paßt auf, heier gibts a Leich in’n Haus“. – „Do halt när de Uhrn steif, daß Du net dra kimmst“, warnte die Stallmagd lachend und zupfte ihn neckisch an den Haaren, worauf sie nach dem Hausflur entfloh.

„Wart när, iech will Dir halfen“, antwortete er mit auf einmal neu erwachtem Mute und wollte ihr nacheilen, denn er war sonst durchaus nicht schüchtern, nur über die Maßen abergläubisch. Da rief die Bäuerin aus der Wohnstube heraus, das Essen sei fertig, und Bruno mußte die Verfolgung aufgeben. Angelegentlich seine Pfeife untersuchend, ob sie noch brenne, schlenderte er gleichgültig an Frieda vorüber, die stolz erhobenen Hauptes, ohne ihn auch nur eines Blickes zu würdigen, zur Tür schritt, um Rösel zurückzuholen.

Der Herr des Hauses hatte unterdessen die Lichter auf dem Kronleuchter und in der Ecke angezündet, und die Jugend ließ sich in fröhlichster Stimmung das Neunerlei gut schmecken. Bruno jedoch, der den andern im Essen immer voraus war, löffelte ewig in seiner Pilzsuppe herum. Es quoll ihm heute alles im Munde. Und nun mußte er auch noch, wenn es ihm im nächsten Jahre gut gehen sollte, Semmelmilch, Klöße, Schweinsknochen, Sauerkraut, Linsen, Bratwurst, Hirsebrei und Kartoffelsalat wenigstens kosten, denn sein Bauer, der außer der Landwirtschaft noch gelegentlich Kohlenfuhren von Böhmen heraus nach der nächsten Stadt besorgte, konnte sich einen solchen Luxus wohl leisten, und er hielt auf alte Gebräuche.

Ja, die anderen konnten gut essen. Bruno jedoch hatte heute Nacht noch einen schweren Gang vor sich. Frieda war seine Liebste gewesen bis zur vergangenen Kirmes. Da hatten sie sich auf dem Nachhausewege vom Tanzboden gezankt. Sie hatte dem langen Friedrich, dem Knecht vom Nachbargute, im Vorübergehen freundlich auf seinen Gruß gedankt, trotzdem ihr Bruno heimlich einen Wink gegeben, gleich ihm ein wenig zur Seite zu gehen. Und den Friedrich hatte er nie ausstehen können. Nicht nur, daß dieser viel vornehmer und gezierter sprach als sie alle, denn er stammte aus der Leipziger Gegend, sondern er war ihm auch sonst nicht geheuer. Seit der Friedrich bei der verwitweten Bäckenbäuerin eingezogen war, wurde dort alles anders gemacht wie sonst. Und was das Merkwürdigste war, es glückte ihm alles, und die Vermögensverhältnisse der Bäuerin hoben sich seit dieser Zeit auffallend. Da ließ es sich Bruno denn nicht nehmen, die Bäckenbäuerin hatte den Drachen, und Friedrich, der ein armer Verwandter von ihr war, hatte ihn hereingelassen. Ganz deutlich hatte er eines Mittags etwas langes Grauschwarzes auf dem Bäckengute zur Feueresse hineinfahren sehen. Mochte nun Frieda, die gleich ihm „von drinnen raus“, das heißt aus Böhmen stammte, zehnmal behaupten, das sei wahrscheinlich der Rauch gewesen, den der Wind zurückgetrieben, und der Lehrer in der Schule predigen, es gäbe gar keinen Drachen, er ließ es sich nicht ausreden.

Am zweiten Kirmesfeiertage hatte es Friedrich auch noch gewagt, Frieda zum Tanze aufzufordern, und sie hatte ihm Folge geleistet. Darüber war Bruno so erbost, daß er Frieda sitzen gelassen und nach Hause gegangen war. Von dem Tage an hatten sie kein Wort wieder zusammen gesprochen. Er glaubte sich in seinen Rechten verletzt, und sie konnte ihm das Sitzenlassen nicht vergeben.

Mit der Zeit aber schwächte sich sein Groll ab, und er wäre einer Versöhnung durchaus nicht abgeneigt gewesen, wenn sie ihm nur einen Schritt entgegen gekommen wäre. Aber das tat sie nicht. Anfangs hatte sie ihn wohl einige Male fragend angesehen, als erwarte sie, daß er etwas sage, später aber ging sie gleichgültig an ihm vorüber, als sei er überhaupt nie dagewesen. Und bald war es ihm zur Gewißheit geworden, sie brauchte ihn nicht mehr. Wozu stand denn der lange Friedrich von drüben abends stundenlang an seinem Gartenzaune und starrte herüber! Ja, er hatte es wohl gesehen, daß dieser nicht hier vorübergehen konnte, ohne einen heimlichen Blick hereinzuwerfen. O, er hätte ihn erwürgen mögen, den unverschämten Nebenbuhler, wenn er ihm nur beikommen könnte, aber er hatte ihn noch nicht ein einziges Mal mit Frieda zusammen erwischt und würde ihn wohl auch nie erwischen, denn der stand mit dem Bösen im Bunde. Am liebsten wäre er von hier fort gegangen, jedoch er hätte sich lieber einen Finger abgebissen, als daß er Frieda merken ließ, wie tief ihn ihre Untreue kränke. So mußte er denn bleiben und seinen Schmerz, der ihm am Herzen nagte, in sich verschließen.

Da kam eines Tages die alte Mattuschen aus Mariaglück, dem nächsten böhmischen Dorfe, aufs Gut. Sie handelte mit Wacholdersaft und bot diesen als Heilmittel gegen allerhand Krankheiten an. Jedermann wußte aber, daß das eigentlich bloß Vorwand war, und daß sie zu ihrem Hauptgeschäfte eine Karte in der Tasche stecken hatte, und die Dorfbewohner und vornehmlich die liebe Jugend ließen sich gern von ihr die Karte legen. Es war daher selbstverständlich, daß sie, nachdem sie ihren Saft an die Bäuerin verkauft hatte, in den Ställen und Schuppen nach den Knechten und Mägden suchte und diesen ihr Schicksal aus den Karten prophezeite. So hatte sie auch richtig erraten, daß Bruno einen Kummer habe, und da sie außer körperlichen auch seelische Gebrechen zu heilen pflegte, gestand er ihr seinen Schmerz.

Sinnend wiegte sie einen Augenblick das Haupt hin und her und fragte so nebenbei, wer seine ungetreue Liebste sei. Und er vertraute ihr den Namen an, nachdem sie ihm hoch und heilig versprochen hatte, niemandem etwas davon zu verraten. Darauf meinte sie mit wichtiger Miene: „Iech will mir de Sach überlengn; wenn iech’s nachste Mol wiederkumm, ward iech Die Bescheid songn“.

Aber der Bescheid war gar nicht nach seinem Geschmack ausgefallen. Er sollte in der heiligen Nacht punkt zwölf Uhr auf dem Nonnenfelsen ein Kräutlein pflücken, das nur um diese Zeit dort wachse und das ihn sicher von seiner Liebe heilen werde. Und der Nonnenfelsen stand mitten im Schönjungferngrund, wo die verzauberte Eisjungfrau von einem bösen Geist festgehalten wurde und auf einen Erlöser harrte. Dieser sollte ein unschuldiger Jüngling sein, der an einem Sonntage geboren war; und sobald dieser den Schönjungferngrund betrat, sollte ihm die Jungfrau entgegengeschwebt kommen, und der Jüngling brauchte sie nur zu küssen, so war sie wieder zum Leben erwacht. Hatte er aber irgend etwas auf dem Gewissen, so kam sie aus ihrem unterirdischen Schlosse heraus, umfaßte ihn mit ihren Armen und zog ihn mit hinein, worauf er ebenso zu Schnee und Eis erstarrte wie sie selbst. Seine Mutter, Gott hab sie seelig, hatte ihm oft davon erzählt, und es hatte ihn stets ein geheimes Grauen gepackt, wenn er in der Nähe des Schönjungferngrundes vorbeigegangen war. Was würde die Verstorbene sagen, wenn sie wüßte, daß er dort ein Kräutlein holen sollte, und das noch dazu in der Heiligen Nacht, wo es schon an allen Ecken und Enden spukte! Er hatte es auch der alten Mattuschen vorgestellt, doch diese war beharrlich dabei geblieben, er müsse das Kräutlein holen, sonst würde er unglücklich sein ganzes Leben lang. Und an alledem war nur die Frieda schuld. Voll Ingrimm warf er einen bösen Blick zu ihr hinüber, da senkte sie gerade die Augen und wurde rot, als sei sie auf einer schlimmen Tat ertappt worden. Hatte sie das böse Gewissen gerührt, da er gerade an sie gedacht?

(Fortsetzung folgt.)

Erzgebirgische Heimatblätter Nr. 50 – Sonntag, den 25. Dezember 1927, S. 2