Wie das Lied entstand: „Mach’s mit mir, Gott, nach deiner Güt‘.“ (2)

(Fortsetzung.)

So hatte sein dichterisches Vermögen, das nach dem Verluste Sidoniens versiechen zu wollen schien, durch sie neue Anregung empfangen, und blieb die musikalische Produktion ungeschmälert, die Schein einst in jungen Jahren begonnen und durch die er rasch der Liebling der deutschen Nation geworden war.

Selbst zu weltlichen Liedern fand er sich wieder aufgelegt, so daß er dem „Venuskrentzlin“, jener Sammlung weltlicher Lieder mit fünf Stimmen, die er einst noch als Student gedichtet und komponiert (1609) und durch die er zuerst die sangeslustige Jugend Deutschlands für sich gewonnen und seinen Ruhm mit einem Schlage zugleich begründet und befestigt hatte, noch die „Musica boscareccia“ oder „Waldliederlein auf Italienische Villanellische Invention“ hatte folgen lassen, jetzt aber sich anschickte, sie durch einen dritten Teil zu ergänzen.

Bereits lagen die meisten Lieder auch dieses Teils, der dann zur Ostermesse 1629 erschien, druckfertig in seinem Pulte. Gerade sie, wie das bekannte „O Sternenäugelein“ und „Mit Freuden, mit Scherzen“ oder das, nach heutigem Geschmack fast zu ausgelassene „Kicke hi hi, ha ha ha“ sollten nachmals in den Augen der Liebhaber sowohl, als der Kenner, und insbesondere bei den damals, wie heute, immer besonders sangeslustigen Studiosen vor allen anderen den Preis gewinnen. Wunderbar, der Kranke selbst mußte lächeln, als er jetzt dieser Lieder gedachte und, wie man ja wohl, wenn man noch spät im Herbst eine Blume im Garten erblickt, sich dieser nur um so mehr erfreut und an ihrem Wohlgeruche sich ergötzt, so sang er jetzt, fast lustig, den einen Vers vor sich hin: „Mit Freuden, mit Scherzen, mit Küssen, mit Herzen, mit Klingen, mit Singen, mit Tanzen, mit Springen, will ich den Tag zubringen, weil Phyllis mich liebet, sich herzlich ergiebet, in Ehren zu erfüllen mein‘ sehnlichen Willen: Thut all‘ mein Trauern stillen“. Indes diese fast übermütige Stimmung hielt nicht lange an. Fast schämte er sich, daß er ihr auch nur einen Augenblick Raum gegeben, heute, wo sowohl ein ernstes Gespräch mit seinem Arzte, dem ihm befreundeten Doktor Roth, als auch eigne Wahrnehmungen ihn belehrt hatten, daß die Stunde, wo er von dieser Welt werde scheiden müssen, nicht mehr allzufern sein könne und die schwere Sorge um die Seinen ihm immer und immer wieder ans Herz drang.

Wie ganz anders war es noch vor wenig Monaten gewesen. Wohl war er auch damals schon schwer krank, vom Podagra und der in Folge eines schon länger andauernden Brustleidens immer mehr zunehmenden Schwäche arg beschwert. Aber damals hatte noch die Aussicht, eine Reise „in’s Karlsbad“ machen zu können, ihn aufrecht erhalten. Man glaubte damals noch allgemein, daß die Wunderquelle dort für alle Krankheit gut sei; warum nicht auch für die seine? So machte er sich voller Hoffnung auf den Weg und ertrug ungeheure Mühen der damals nur allzu beschwerlichen Reise geduldig. Allein das Bad hatte die erwünschte Wirkung nicht. Obwohl er, wie es damals Brauch war, in dem warmen Wasser stundenlang den müden Leib badete und gleichzeitig das Brunnenwasser in vorgeschriebenen Mengen trank, sein Leiden wurde nur schlimmer, und häufiger stellte sich der verräterische Husten ein.

Die Rückreise griff ihn vollends auf das Aeßerste an. Als er von Schwarzenberg aus wieder die dunkel bewaldeten Höhen vor sich sah, die in dem hohen Spiegelwald gipfeln, an dessen jenseitigem Abhang, im Tale eingebettet, sein Geburtsort, das liebliche Grünhain liegt, da war es ihm, als erblicke er sie zum letzten Male, als werde der Zeit, da man ihm dort die Wiege gebettet, bald die andere folgen, wo man ihm im Grabe die letzte Ruhe bereite.

Zum Tode matt kam er in Leipzig wieder an. Am Posthofe holten ihn die Seinen und die Freunde ab, unter denen wieder Paul Fleming und der treffliche Adam Olearius, damals Konrektor an der Nikolaischule und Assessor in der philosophischen Fakultät der Universität, nicht fehlten.

Das veränderte Aussehen des Freundes fiel allen auf. Die Freude, die sie von seinem Wiedersehen gehofft, wenn er gebessert zurückkehren würde, hatte sich in Trauer verwandelt.

Aber Johann Hermann Schein war ein Christ. Die Lieder des von ihm im Jahre 1627 herausgegebenen Gesangbuches, wie des „Cymbalum Sioneum“ waren nicht bloß von ihm äußerlich gesungen, sondern innerlich erlebt. Die Trauerlieder, die er oft in Wort und Melodie auf den Wunsch der Angehörigen teuren Heimgegangenen gewidmet, waren von ihm immer im Innersten empfunden.

Heute war es ihm nun, als könne und solle er sich selber ein Sterbelied singen. Seine Seele wallte auf in Liebe zu Gott, der ihm neben dem Kreuz, das er ihm auferlegt, doch auch so manches Gute verliehen, vor allen Dingen mit jener wunderbaren Gabe geziert, mit der er sich und anderen so tausenfältig Freude gemacht, Herzen erhoben und getröstet hatte. Er gedachte seiner Lieben, gedachte seiner Freunde mit stummer Trauer und als ein Scheidender, aber doch ohne Bitterkeit, wie sie die Seelen nur derjenigen in der Stunde des Scheidens vergrämt, welche töricht vermeinen, hier eine „bleibende Stätte“ zu haben. Nur Dank erfüllt sein Herz und stille Ergebung, sowie der eine heiße Wunsch, daß Gott ihm zum Letzten nur dies noch wolle verleihen: Ein seliges Ende.

Langsam erhob sich der Kranke vom Stuhl. Er schritt nach dem Tisch, wo seine geliebte Laute lag. Er hob sie auf und prüfte mit zitternder Hand ihren Ton. Dann, in plötzlicher Erleuchtung, griff er in die Saiten; er suchte, fand und spielte nach kurzem Präludieren diese neue Melodie:

d, fis, g, a, a, g, fis, e.

Dazu sang er mit leiser Stimme: „Mach’s mit mir, Gott, nach deiner Güt“ usw.

So war ihm eine der schönsten, vielleicht die schönste aller Melodien, die ihm je gelungen, womit er den Schatz unseres deutschen evangelischen Kirchengesanges jemals bereichert, fast ungesucht gekommen und zugleich der Text der ersten Strophe.

Während er, auf der Laute spielend und leise singend, im Zimmer langsam auf und ab ging, bemüht, die Gedanken, die ihn bewegten, noch weiter festzuhalten und zu neuen Strophen zu gestalten, welche die eine erste ergänzen und das Lied vollenden könnten, tat sich plötzlich die Tür leise auf und herein trat, seine Knaben an der Hand, sein Eheweib Elisabeth. Sie sah mit einem Ausdruck von Besorgnis und Kummer in das Antlitz des geliebten Kranken, aber ihr Auge erhellte sich, als sie den Gatten so verklärt, ja, fast fröhlich sah. „Du hast eine gute Stunde“, sagte sie, „ich sehe es; gewiß, Dir gelang ein neues Lied. Hab‘ ich Dich in Deiner stillen Arbeit gestört, so verzeih‘, Lieber, oder willst Du, so ziehe ich mich auch gleich zurück. Doch ist es eine dringliche Mitteilung, die ich Dir machen muß.“

Schein war zu seinen Knaben getreten. Er legtev wie segnend die Hände auf sein lockiges Haupt. Dann streckte er sie mit freundlichem Gruß seiner Elisabeth entgegen und, sie liebevoll ansehend, sagte er: „Du weißt, Liebste, daß Du mich nimmer störst. Also sprich, was ist’s mit der dringlichen Nachricht, die Du bringst. Es ist nichts Gutes, ich sehe es Dir an.“ „Leider nein“, erwiderte Elisabeth ernst, die Hand des Gatten zärtlich streichelnd. „Du weißt, die Seuche wütet noch immer in der Stadt. Manch‘ teueres Haupt hat sie schon dahingerafft. Gestern Nacht ist ihr Margaretha Werner, die ehrsame Hausfrau des Ratsherrn und ältesten Baumeisters dieser Stadt, unseres hochmögenden Gönners, erlegen. Die Hinterlassenen hoffen, Du werdest ihr ein neues Leichenkarmen singen und sie mit den Thomanern zur letzten Ruhe begleiten. Fühlst Du Dich stark genung und wird es Dir jetzt in Deinen Schmerzen zu Gottes Ehr‘ und den Angehörigen zum Trost gelingen?“

(Fortsetzung und Schluß folgt.)

Erzgebirgische Heimatblätter Nr. 45 – Sonntag, den 20. November 1927, S. 2