Das „Vater Unser“ in Bildern

von Ludwig Richter und nach einer Predigt-Textauslegung von Sup. Robert Lischke-Plauen.

Ludwig Richter, der Lieblingsmaler des deutschen Volkes, hat auch unser Erzgebirge bereist. In seiner Bildermappe finden wir u. a. sogar ein Bild von unserem Buchholz, welches wir auch an dieser Stelle vor einiger Zeit zum Abdruck brachten. Unsere Leser wird es interessieren, Ludwig Richters Wirken und Schaffen auch auf religiösem Gebiete einmal kennen zu lernen. Wie tief Ludwig Richter auch hier empfunden hat, das zeigen seine Bilder von den einzelnen Bitten des „Vater Unsers“, die wir heute und in den nächsten Ausgaben unserer „Erzgebirgischen Heimatblätter“ zum Abdruck bringen.

Vater unser, der Du bist im Himmel!

Die Himmel rühmen die Ehre Gottes, und die Veste verkündet seiner Hände Werk.
Psalm 19, 2.

„Das Vaterunser ist ein helles Siebengestirn am Gebetshimmel der Christen“, so schreibt Sup. Lischke über das Gebet des Herrn. Wie dieser Gottesmann die einzelnen Bitten des Gebetes uns auslegt, folgt in dem nachfolgenden erbaulichen Text:

„Wie die Bibel das Buch aller Bücher ist, so ist das Vaterunser das Gebet aller Gebete, das Meister- und Mustergebet, das Alles umfaßt, was nur je ein Menschenherz bewegt. Es ist das einzige Gebet, das alle Christen auf Erden gemeinsam haben, welcher Konfession oder Kirche sie auch angehören mögen, und somit ist es ein einigendes Friedensband, das alle Christen umschlingt. Es ist aber auch das einzige Gebet, das, wie ein eisernes Kapital, keiner ganz vergeuden und verlieren kann. Ich habe in meinem Leben an gar manchem Sterbebette gestanden, aber soviele ich auch gefunden, die am Glauben Schiffbruch gelitten haben, die alle Sprüche und Lieder ihrer Jugend vergessen, das Vaterunser hatte ihnen kein Sturm entreißen können, diese Himmelsklänge riefen manchen zurück und wurden manchem in letzter Stunde das letzte Rettungsseil.

Wohl gibt es jetzt in unserm deutschen Volk so viel gebetslose Menschen und Familien. Warum? Die Einen wollen nicht beten. Hat doch selbst der große, deutsche Denker Kant das Beten als „ein Tun bezeichnet, dessen sich jeder schäme, der dabei überrascht werde“. Aber er selbst hat in seiner Todesstunde seine eigenen Hände still zum Gebet gefaltet! Andere wollen wohl beten, aber können es nicht mehr, weil ihr grübelnder Verstand oder ihr verzweifelndes Herz oder ihr böses Gewissen kein fröhlich Abba über ihre Lippen kommen läßt. Von dem Philosophen Spinoza erzählt sein Biograph, er habe mehr als einmal geweint, „weil er nicht mehr beten konnte.“

Noch andre beten gleich eine Anzahl Vaterunser hintereinander, aber einen rechten Segen haben sie nicht davon. Ihr Gebet ist Lippenwerk, nicht Herzenswerk.

Es gibt keine einzige Religion in der Welt, die nicht in irgend einer Gestalt das Gebet fordert. Auch die armseligsten Götzendiener und Fetischanbeter haben sich noch Trümmer vom Gebet gerettet, und wenn wir lesen, wie in der antiken Welt der Römer und Griechen und heut noch bei den Indern nichts begonnen wurde, kein Tagewerk, keine Reise, keine Rats- und Gerichtssitzung, ohne daß man nicht zu einer Gottheit gefleht, so kommt es uns Christen des 19. Jahrhunderts eie Beschämung an. Ist es doch dem Menschen natürlich zu beten, ebenso, wie es dem Vogel natürlich ist zu singen, der Blume natürlich ist zu blühen. Wo ein lebendiges Verhältnis zu Gott ist, wo überhaupt Religion ist, dort ist Gebet; denn das Gebet ist der Funke, der aufzuckt, wenn die Menschenseele sich mit dem unendlichen Gott berührt. Wie steht es nun mit Dir und Deinem Gebetsleben? E. M. Arndt singt: „Wer ist ein Mann? Der beten kann!“ Als 1556 die Kurpfalz hart von Feinden bedroht wurde, kam man bei der Hoftafel auf die Frage, wie sich wohl ein jeder durchzuschlagen gedächte, wenn der Kurfürst besiegt werden sollte. Da sagte der eine: „Ich kann fechten;“ ein andrer: „Ich kann die Laute spielen;“ ein dritter: „Ich kann Netze stricken,“ und so fort. Als endlich die Reihe an den frommen Ritter Otto von Grünrad kam, sagte dieser: „Ich kann beten! Und von dieser Stunde an will ich solches Handwerk, nämlich das Gebet, bei meinem Gott anwenden, und der wird schon helfen, daß wir alles andere nicht bedürfen.“ Ja, das Beten, sagt Dr. Luther, ist des Christen bestes Handwerk, das einen güldenen Boden hat; denn wo bei einem Handwerk das Beten fehlt, da hat der güldene Boden ein Loch, zu dem alles wieder hinausrinnt. „Ich kann beten,“ hat jener Ritter gesagt. Kannst Du es auch, und übst Du es recht?

Ja, hör‘ ich antworten. Wenn ich auch nicht viel Worte mache und gerade in den schwersten oder glücklichsten Stunden das eigne Gebetswort mir oft fehlt, ein liebes „Vaterunser“ schicke ich zu meinem Gott.

Aber wieviel gedankenlose Vaterunser mögen täglich auf zum himmlischen Vater steigen! Dr. Luther schreibt in seiner kleinen, herrlichen Schrift „Eine einfältige Weise zu beten, 1535“: „Es ist Jammer über Jammer, daß solch Gebet solchen Meisters soll ohn Andacht zerplappert und zerklappert werden. Viele beten des Jahres wohl 1000 Pater noster und haben nicht einen Buchstaben oder Titel davon geschmeckt und gebetet. Summa, das Vaterunser ist der größte Märtyrer auf Erden!“

Zwar an Auslegungen und Anwendungen des Vaterunsers fehlt es uns nicht. Man hat es mit einer Himmelsleiter von 7 Sprossen verglichen, auf der die Seele täglich Himmelfahrt halten könne. Man hat es auf die 7 Wochentage verteilt, vom Sonntagmorgen an, wo es heißt in der Gemeinde: „Geheiligt werde Dein Name,“ bis zum Sonnabend Abend, wo man seine Woche schließt mit dem Preisgebet: „Dein ist das Reich und die Kraft und die Herrlichkeit.“ Oder man hat es als Wegweiser hineingestellt ins Menschenleben, vom Kind an, das da stammelt: „Vater unser im Himmel,“ bis zum Greise, der da bittet: „Erlöse uns von dem Uebel.“ Der fromme Spangenberg vergleicht es gar mit einer himmlischen Königsburg. Die Anrede ist das Schloßportal, die erste Bitte führt uns in seine Schloßkirche, die 2. in seinen Thronsaal, die 3. in seine geheime Kanzlei, die 4. in sein großes Provianthaus, die 5. in die Zins- und Rentenkammer, die 6. ins Zeughaus und die Waffenkammer, und in der 7. treten wir in sein schönes Paradies. Wir wollen bei den 7 Bitten einmal stehen bleiben, und weil nicht selten, wenn man in stillen, nächtlichen Stunden nach dem funkelnden Sternenhimmel blickt, das Siebengestirn in ganz besonders hellem Glanze auf uns niederleuchtet und mancher von uns nach diesem Siebengestirn ausschaut und darüber hinauf zum himmlischen Vater, darum wollen wir das Vaterunser ansehen als das helle Siebengestirn am Gebetshimmel des Christen.

Wir schauen uns die 7 leuchtenden Sterne der Reihe nach an. Aber freilich, wenn der Sternenkundige die fernen leuchtenden Welten beobachten will, dann bedarf er eines Teleskopes, eines Fernrohrs, durch welches sein Auge in die Tiefen des Himmels dringt und das ihm die fernen Gestirne gleichsam näher bringt. Solch ein Mittel, das Siebengestirn des Vaterunsers deutlich zu erkennen, haben auch wir, und zwar in der Anrede des Vaterunsers; denn „Gott will uns damit locken, daß wir glauben sollen, er sei unser rechter Vater und wir seine rechten Kinder, auf daß wir getrost und mit aller Zuversicht ihn bitten sollen, wie die lieben Kinder ihren lieben Vater.“ In der Anrede schauen wir gleichsam in die unermeßlichen Tiefen der Ewigkeit, in das Vaterherz unsres Gottes: Vater. Nur als Christen, als Erlöste auf den Gottesgrund der Versöhnung können wir so sprechen; denn warum nennen wir Gott unsern „Vater“? Nicht weil er uns erschaffen hat, darum heißt er „Schöpfer“; nicht weil er uns erhält und versorgt, darum heißt er „Erhalter“ und „Versorger“, sondern weil er uns seinen Sohn dahingegeben und uns durch ihn zu seinen Gotteskindern gemacht hat. So liegt also in diesem ersten Wort „Vater“ das ganze Evangelium im Kleinen! Und ist er Dein Vater, so bist Du sein Kind – welch süßer, seliger Trost! Das ist ein Adelsbrief, wie es keinen zweiten gibt in dieser Welt. Auch der Aermste und Geringste, der an diesen Vater glaubt, ist ein Königskind mit königlichen Rechten, die in die Ewigkeit hineinreichen. Und Du wolltest zagen und klagen? Ehe Du rufst, will er Dich hören; ehe Du nahst, sind seine Arme offen. Er hat keine größere Vaterfreude, als wenn alle sorgenden, irrenden, verlorenen Kinder sich aufmachen zu ihm, um heimzukehren in den Schutz und Frieden seines Vaterhauses. Wenn er sich „Richter“ nennt, dann müssen wir zittern und fliehen; aber er nennt sich „Vater“, so dürfen und wollen wir alle zu ihm kommen!

Der Vatername ist unseres Glaubens Felsengrund; denn nun wissen wir, es ist nicht ein starres Geschick, das über uns waltet; es ist nicht ein blinder Zufall, der über uns herrscht; es ist nicht ein leerer Himmel, von dem so viele reden, statt von dem zureden, der im Himmel ist; es ist nicht das verschleierte Bild eines höchsten Wesens, an das wir uns wenden, sondern es ist der Gott der Gnade und der Liebe, der in Christo Jesu unser Gott und Vater geworden, der, hoch und erhaben über Alles, uns doch nahe geworden, sodaß ein Johannes jubelt: „Sehet, welch eine Liebe hat uns der Vater erzeigt, daß wir sollen Gottes Kinder heißen.“ „Vater“ ist das Wort des Glaubens, „unser“ ist das Wort der Liebe. „Vater“ zeigt unsre Einheit mit Gott, „unser“ zeigt unsre Einheit mit allen Christen auf Erden.

Bei diesem Wörtlein „unser“ denke stets zuerst an all die lieben Deinen, die hier und die in der Ferne, denke dann an Deine Hausgenossen, Deine Mitbürger und Mitchristen, auch an Deine Widersacher und Feinde, und war etwas von Zorn und Neid, von Haß und Selbstsucht in Dein Herz gezogen, das Wörtlein „unser“ knüpft das Band der Liebe wieder fest an Gottes Thron und läutet hell die Friedensglocken in der Welt. Wärst Du auch ganz allein, ganz verlassen in der Welt, sobald das Wörtlein „unser“ über Deine Lippen kommt, siehst Du Dich hineingestellt in eine große Schar mitbetender Glaubensgenossen, die vielleicht in derselben Not, die mit Dir unter demselben Kreuz stehen; ja, das Wort schließt die streitende Kirche hier mit der triumphierenden droben zusammen.

„Der Du bist im Himmel,“ das ist das Wort der Hoffnung, das uns die Erhörung verbürgt, durch ihn, dem alle Gewalt gegeben ist im Himmel und auf Erden, der allmächtig, ewig und allwissend, kann überschwenglich tun über unser Bitten und Verstehen. Das Wort gemahnt uns aber daran, daß wir hier drunten nur auf der Wanderschaft sind, daß unsere Heimat, unser Vaterhaus da ist, wo unser Vater ist: im Himmel. Als Melanchthon im Sterben lag, rief ihm sein Schwiegersohn zu: „Ehrwürdiger Vater, begehrt Ihr noch etwas?“ Da antwortete er leise: „Nichts, als den Himmel!“ Könntest Du heute auch so sprechen?

Wahrlich, die ersten Worte des Vaterunsers öffnen uns erst den Blick in die Tiefen der Ewigkeit und lassen uns hineinschauen bis ins Allerheiligste, in den Abgrund der Barmherzigkeit, in das ewige Erbarmen, in Gottes Vaterherz!

Wer je auf einer Sternwarte zum erstenmal durch ein gewaltiges Fernrohr nach den Gestirnen droben sah, der wird es nie vergessen, wie ganz anders sie leuchten und flammen, diese Wunderwelten, als er sie sonst gesehen. Wer recht die Anrede des Vaterunsers beten gelernt, der schaut nun hinein in den offenen Himmel, in das Vaterherz der ewigen Liebe, dem geht nun erst das heilige Siebengestirn auf in vollem Glanz.

(Fortsetzung folgt.)

Erzgebirgische Heimatblätter Nr. 45 – Sonntag, den 20. November 1927, S. 1