Städte der erzgebirgischen Heimat (10)

Von Guido Wolf Günther.

(Schluß.)

Crottendorf.

Wie sich’s hineinkuschelt zwischen die Hänge des Liebensteines und des Scheibenbergs, das langgestreckte Crottendorf, – just wie ein Bub, der sich vor Schlägen fürchtet und hinter Mutters Rock sich verstecken möchte. Brauchst dich nicht zu schämen deiner sorbischen Gründung und der üblichen Nachrede von den vielen Kröten! Längst wohnen gute Deutsche und Erzgebirgler dazu in deinen Hausungen, und die Kröten und Frösche sind jetzt brav dahingeschwunden, wo sie einst herkamen: in die große Heide. Dort halten sie an schönen Abenden Symphoniekonzerte ab und bringen den weitberühmten „Crutendorfer“ Maurern, die auf dem Apothekersteig heimwärts wandern, ein gutgemeintes Ständchen. Darfst dich schon sehen lassen im Kranz der Heimatorte, denn einst drang ja dein Ruf bis Amsterdam und Kopenhagen! Gelt, da schaust du? Ja, das Amsterdamer Rathaus und das Königin-Mathilde-Denkmal in Kopenhagen haben den Crottendorfer Marmor zu Ehren gebracht, und Dresden und Leipzig wissen auch von seiner spiegelnden Glätte und von seiner schöngezeichneten Maserung viel Lobendes zu berichten. Heute freilich trauern deine Kalkwerksöfen einer besseren Zeit nach, die keinen ausländischen Marmor kannte; aber dafür ist in deinen Häusern reges Leben wach, und neue Erwerbszweige sorgen dafür, daß „Crutendorf“ in der Welt nicht ganz vergessen wird. Einem Lindwurm gleich räkelst du dich im Zschopaugrund und bewachst den Zugang zum Waldmärchenreich – beschaulich bald erscheinend, bald mit hundert Motoren prasselnd wie Lindwurms Schuppenpanzer: ein wenig Liebenstein-Romantik von sorbischen Götterfesten und heidnischem Spuk geistert noch immer im Tal! —

Reich schlingt sich die Sage um das langgestreckte Dorf, das schon im 10. Jahrhundert gegründet sein dürfte, bestimmt aber um’s Jahr 1200 bestanden hat. Die Nähe des großen Sumpfes, der südöstlich sich erhebende Liebenstein und endlich die langzeilige, deutsche Siedlungsweise geben zu drei Gründungssagen Anlaß, die wir im folgenden lebendig zu machen versuchen wollen.

Düster ragt der Miriquidiwald in den Abendhimmel hinein; murmelnd eilt die Zschopau talwärts, um möglichst schnell in die helleren Auen der Niederung zu gelangen. Mißtrauisch äst sich ein Rudel Hirsche am Waldrande hin. Schwarzhaarig Menschenvolk kam in dieses Tal der Stille und Sicherheit! Aufgescheucht vom sieghaft vordringenden Germanenvolk zogen sich die Sorbenwenden zurück aus dem freundlichen Niederland, um hier den böhmischen Stammesverwandten näher zu sein, wenn Gewalt gegen Gewalt sich stellen wollte. Schon waren die Zschopau-Auen besiedelt und hier oben schien die letzte Möglichkeit zur Niederlassung zu sein. Heute nacht soll der Feuerbrand lodern auf der Höhe zu Ehren der Götter Bieleboh und Zerneboh, und dem Kriegs- und Feuergott Chrotin will der heidnische Priester opfern. Hirsch und Reh flüchteten längst vor dem Getümmel der bergan ziehenden Menschen; gespenstisch glühen Fackeln durch die Stämmewildnis des Liebensteines, und seltsam schrillt der Opfersang der Priester von der Höhe. Mit fratzenhaften Zügen thront auf der Kuppe Chrotins Standbild, umwogt von schreienden Menschen, die die Götzenfeier schier den Verstand verlieren läßt. Glutäugige Mädchen schlingen mit schlanken Burschen den Chrotins-Reigen, und grelle Musik versucht durchzudringen, um Takt ins leidenschaftlich erregte Spiel der Glieder zu bringen. Da gellt ein Ruf ins Lärmen und Schreien und läßt es blitzschnell verstummen: die ausgestellten Späher haben Streifhorden der verhaßten Deutschen gemeldet. Wie vom Boden ausgespien, stürmen auch schon die hochgewachsenen, hellockigen Söhne Mitteldeutschlands herbei, Schwerter klirren, sorbische Wut glitzert auf in zusammengekniffenen Augen und heidnischer Fluch schauert hinüber zu den Bewaffneten. Die scheren sich wenig darum; schnell ist das Opferfeuer auseinandergerissen, daß Dunkel plötzlich Freund und Feind einhüllt, und ein Fußtritt schleudert das Chrotinbild vom Sockel, daß es sich überschlagend in wunderlichen Sprüngen die Waldblöße hinabrollt, um dumpf klatschend im Sumpfe des Tales zu verschwinden.

Starr sind ob dieses Frevels Priester und heidnisch Volk, – schleudert jetzt Bieleboh nicht Blitze? Reißt nicht Zerneboh die Erde auf mit Feuer und Schwefel, die germanischen Frechlinge zu vernichten? – Nichts, gar nichts geschieht! Scheu, von unerklärlicher Furcht erfaßt, fliehen schließlich Mann und Weib, die Priester voran, hinab in Chrotins-Dorf, dem nun der Spuk eines sumpfbegrabenen Gottes anhängt, solange sorbische Siedler in ihm hausen. Droben aber, beim gestürzten Götteraltar, sitzen die germanischen Krieger und freuen sich des Streiches, den sie dem verhaßten Slavenvolk gespielt haben. —

Mit eiserner Faust haben die deutschen Könige die slavischen Völker zurückgedrängt über das Gebirge; nur Ueberreste noch leben, kaum geduldet, in meißnischem Land. Falsch und unberechenbar ist dieses Volk der Slaven und nur im Zaume zu halten, wenn deutsche Siedler unter sie gesetzt werden zur Grenzwacht. So zieht dann auch eine Schar altfränkischer Bauern hinauf ins Zschopental, wo ihnen Fürstengnade ein großes Stück Land zur Siedelung schenkte. Früher und erster Richter im neuen Dorfe ist Chrodo, ein ehemaliger Krieger im Königsheer. Aus angesehenem Bauerngeschlecht entsprossen, schlug er sich wacker für seinen König mit den schwarzhaarigen Sippen und kehrte als der „Berühmte“ in sein Dorf zurück. (Chlod oder chrod – der Berühmte. Vergl. Chlodwig, Chlodhilde!) Des Stillesitzens entwöhnt, war er gerne bereit, einen Stamm altfränkischer Bauern grenzwärts zu führen und blieb schließlich im äußersten Dorfe selbst als Dorfrichter und Bauer seßhaft. Daß man nach ihm das Dorf Chrodos Dorf nannte, war nur recht und billig. —

Jahrhunderte sind verrauscht und löschten das Andenken an den beherzten, ersten deutschen Siedlerbauern aus; der Dorfname war im Sprachgebrauche abgeschliffen worden zu Krotendorf und Crottendorf und schließlich erschien im Orts- und Kirchensiegel der Gemeinde ein Tier, anmutig bekränzt, das offenbar eine Schildkröte darstellt. Die große Heide mit ihren Tausenden von Fröschen und Kröten half aus der Verlegenheit über die Ursache der Ortsgründung, und die Heidekröten sind ungeheuer stolz auf diese Ehre! Nun, lassen wir ihnen diese Freude, – sie haben sonst wenig Grund, uns Zweibeinern dankbar zu sein, – und stellen wir für uns fest: Die wahrscheinlichste Deutung ist die, die auf „Chrodo“ zurückgeht; die langgestreckte Siedelungsweise deutet auf germanischen Ursprung hin, denn die Slaven bauen in Rundlingen.

Erzgebirgische Heimatblätter Nr. 35 – Sonntag, den 11. September 1927, S. 3