Sommerliches Leben am Scheibenberg zu Großvaters Zeiten.

Der Scheibenberg, von dem diese Blätter schon mehrfach berichtet haben, hatte bis weit in die neuere Zeit hinein ein wesentlich anderes Aussehen als jetzt. Bekanntlich trug er lange nur auf der Crottendorfer Seite Wald, während der Teil, der von der Stadt aus zu sehen ist, kahl dalag, mit Gras, Kleebüscheln und vielen Basaltstücken bedeckt.

Scheibenberg mit Park, sog. Kultur und Scheibenberger Basaltbruch.

Im Winter war er völlig verwaist, nicht einmal die Schuljugend suchte ihn zu Ruschelfahrten auf wegen der vielen Felsblöcke. Kam aber der Frühling ins Land, dann zog der Berg schon von alters her reges Leben an, doch Leben anderer Art als heute. Dann nahm der Briefträger, der die Crottendorfer Post zu bestellen hatte, gleich anderen zwischen den beiden Orten hin- und widergehenden Personen seinen Weg über den Berg; noch heute erinnert der alte, fast unkenntlich gewordene Briefträgersteig, der gleich westlich der Bolingbank schräg durch den Wald hinaufführt, an ihn.

Das bekannte „Fischer-Lieb-Häuschen“, gebaut 1797, abgebrochen im Februar 1913, an der Bergstraße oder Hutweide.

War am ersten Pfingstfeiertage schönes Wetter, so herrschte an und auf dem kahlen „Hübel“ fröhliches Treiben. Aus Scheibenberg, Crottendorf und anderen Nachbarorten strebten Scharen von Spaziergängern in den frühesten Morgenstunden nach unserm Berg. Am Rande seiner Platte oder auf dem sogenannten Spielplatz, unter dem jetzigen Waldtheaterplatze, lagerten sie sich zerstreut, schürten einzelne Feuerchen an, brauten sich in Gottes freier Natur ihren Pfingstkaffee und genossen den Pfingstmorgen bei Gesang und Fröhlichkeit und köstlich mundendem Morgenimbiß in echt erzgebirgischer, gemütlicher Weise.

Am bedeutsamsten für den Ort war die Benutzung des Berges als gemeinsamen Weideplatz. Die Einrichtung des gemeinsamen Austreibens der Rinder, die auf altgermanischen Brauch zurückzuführen ist und hier jedenfalls seit der Stadtgründung bestand, hielt sich hier länger als in den meisten Nachbarorten, darum lebt sie auch noch frisch in der Erinnerung der älteren hiesigen Einwohner. Das gemeinsame Weiden begann in der Regel am 1. Mai und wurde von einem Gemeindehirten besorgt. Die drei letzten hießen Christian Müller, genannt Heidengeist, Frenzel (starb im Hause Albertstraße 17) und Gehlert (gestorben im Hause Albertstraße 3).

Das Park-Café das an der Stelle des Fischerhäuschens steht.

Bis zum Anfang des vorigen Jahrhunderts hatte der Hirt seine besondere Wohnung, das Hirthaus, jetzt Wilhelmstraße Nr. 42. Der Platz dafür am Westende des Ortes war recht zweckmäßig ausgewählt. Aber wie alte Blätter berichten, war es sehr klein, 16 Ellen lang, 11 Ellen tief, hölzern und zuletzt höchst baufällig, so daß es an den Seiler Korb für 85 Taler verkauft wurde, während der Garten, der sich wegen seiner Länge für des neuen Besitzers Handwerk gut eignete, 25 Taler kostete. Heute ist das Haus verlängert, massiv und wohl ausgebaut. (Nebenbei sei bemerkt, daß auch das Haus des Gänsehirten sehr klein gewesen sein muß, so daß nach seiner Einäscherung bei einer Feuersbrunst auf den beiden Hausstätten 47/48 auf der Lindenstraße e i n Haus erbaut wurde, jetzt Nr. 23.) Doch nun zurück zum Gemeindehirten. Wenn er früh 7 Uhr sein weithin schallendes und bekanntes Horn ertönen ließ, dann wurden die Ketten der zur Weide bestimmten Tiere in den Ställen gelöst – nicht der ganze Rinderbestand wurde mitgeschickt – und auf allen Straßen eilte das Vieh nach Osten, der „Hutweide“, (siehe die Bilder 1. Seite) der jetzigen Bergstraße, zu, wo es sich zum Auftrieb auf den Berg sammelte. Daß die Straßen des Ortes dabei ein echt viehwirtschaftliches Aussehen erhielten, ist selbst verständlich. Doch die Not und der Brauch jener Zeit sorgte für Säuberung. Arme Leute sammelten die Losungen und füllten damit die in frühester Zeit an der Schießhausstraße bei den Scheunen, später an der Hutweide über dem Schießstand und sonst errichteten Düngerstätten, um im Frühjahr Partenkartoffeln bei den Landwirten legen zu können. Daß diese Stätten ihrer Umgebung keinen ästhetischen Anblick verliehen und später auf ihre Beseitigung gedrungen wurde, ist verständlich.

Das Bild, das der kahle Berg bot, wenn die Herde von 50 bis 80 Rindern auf ihm zerstreut weidete, entbehrte nicht der Reize. Je nachdem der Betrachter innerlich eingestellt war, zog ihn mehr das Idyllische oder das Malerische oder das Wirtschaftliche an. Von den Tieren berichten die Alten übereinstimmend, daß sie mit großer Geschicklichkeit in den Felsblöcken herumkletterten und ihr Futter zu finden wußten. Die Sorge wegen des Abstürzens, die für uns sehr naheliegt, scheint es nicht gegeben zu haben. Das war auch begründet; denn z. B. an der Stelle des Berges, wo heute die mächtigen Säulen des Scheibenberger Bruches aufragen (siehe Bild 1. Seite), war früher fast nichts von den Orgelpfeifen zu sehen, man konnte auch da über Rasen und Basaltwacken zur Platte emporklimmen, wie einst auf dem ehemaligen, jetzt abgesperrten Schlettauer Fußsteige. Nur bei der Bastei und dem staatlichen Bruch standen schon früher die Orgelpfeifen in achtunggebietender Höhe frei da. Hier ist auch in den letzten Jahren der gemeinsamen Weide einmal ein Jährling von Tanzmeister Oskar Stielers Vater abgestürzt, was aber ein ganz seltener Fall gewesen zu sein scheint.

Bei der Nähe des Weideplatzes am Orte konnte man es sich leisten, die Tiere über Mittag nach Hause zu nehmen, darum trieb sie der Hirt um 11 Uhr wieder herunter. Beim Schützenhaus wurden sie zum Teil von ihren Eigentümern in Empfang genommen, wobei die eben aus der Schule heimkehrende Jugend behilflich war, zum Teil aber trotteten sie mit ergötzlicher Selbständigkeit und Sicherheit allein heim und fanden ihren Ort auch über winkeligen und schwierigen Weg. Nachmittags 2 Uhr erfolgte der zweite Austrieb in derselben Weise. War das Futter auf dem Berg abgeweidet, dann geleitete der Hirt seine Schutzbefohlenen zur Abwechslung die Viehtrift hinunter auf das Gemeindeland vor dem Schlettauer Wald. Der Ziegenhirt löste ihn oft mit seiner genügsamen Herde ab oder leistete ihm, besonders auf dem Berge, Gesellschaft; heute noch erinnert der Name Ziegenhalde an ihn.

Der Brauch der gemeinsamen Weide bestand in Scheibenberg bis in den Anfang der achtziger Jahre des vorigen Jahrhunderts, wohl bis 1882. Da wurde das Hutungsrecht unter Bürgermeister Kegler abgelöst und der Zuchtgenossenschaft dafür jährlich eine Entschädigung von 73 Mark, der Pachtertrag der sog. Bullenäcker, ausgesetzt. Ein Nachklang jener Sitte ist die in der Nachkriegszeit hier wieder eingerichtete gemeinsame Ziegenweide. Sollte nicht ihre reibungslose Einführung gerade hier auf die noch frische Erinnerung an jenen alten Brauch mit zurückzuführen sein?

Seinerzeit war seine Aufhebung durch mancherlei Umstände gefordert worden, vor allem auch durch den Plan, den ganzen Berg mit Wald zu bepflanzen. Im Laufe von reichlich 3 Jahrzehnten ist er ausgeführt worden. Zuerst, und zwar um das Jahr 1850, scheint man den Teil Wald unter dem heutigen Scheibenberger Steinbruch angepflanzt zu haben, die sogenannte Kultur (siehe Bild 1. Seite), später den Teil um den jetzigen Turm und den Triangulierungsstein herum, zuletzt, nach dem Ende der Hutung, den Abhang nach der Stadt zu. Lange Zeit hatte dabei der frühere Stadtwachtmeister Bernhard Greifenhagen die Leitung; an ihn erinnern noch ganz verblichene, kaum noch leserliche Aufschriften auf einigen an trauten Waldplätzen aufgerichteten Basaltsteinen. Durch das dichte Fichtenkleid, das den Berg jetzt einhüllt, hat er unstreitig sehr an Wert gewonnen, für die zahlreichen Nutznießer und für den Wanderer im Sommer und dem Besucher im Winter.

Der Verbindungsraum zwischen dem Nordostteil des Berges und der Stadt hat zur Zeit der Großväter mehrerlei Veranstaltungen der Scheibenberger Einwohner erlebt und verschiedene Wandlungen erfahren, ehe er seine gegenwärtige Gestalt erhielt. Dort lag einst der sog. Exerzierplatz, jetzt kaum mehr dem Namen nach bekannt. Auf seinem östlichen Teile stand später das Birkenwäldchen über der Villa „Helene“ (siehe Bild), dessen leuchtende Stämme in der Hauptsache schon wieder verschwunden sind und den ernsten Fichten Platz gemacht haben. Im Westen reichte der Platz bis zu den Halden bei der tiefen Grube und dem Wasserbehälter. Welche Bewandtnis hatte es mit diesem „Exerzierplatz“? Die Zeit von 1848 war auch für die Scheibenberger der Anlaß dazu, eine Bürgerwehr oder Kommunalgarde zu errichten. Schließlich bestand sie aus 5 Kompagnien, die erste waren die Schützen, die zweite die Jäger, die dritte und vierte die Bürgergarde und die fünfte die Ledigen. Geführt wurde die erste vom Spitzenfabrikanten Hempel, die zweite von Apotheker Stiehler, die dritte von Stadtrichter Landrock (wohnhaft Markt 29), die vierte vom Kalkwerksbesitzer Gottschald (Albertstraße 13) und die fünfte vom Spitzenfabrikanten Schwarzenberg (Markt 29). Als Waffe trugen die beiden ersten Kompagnien Gewehre, die übrigen Lanzen, die bei der dritten und vierten grün-weiß, bei der fünften schwarz-rot-golden bemalt waren. Die letztere besaß auch eine schwarz-rot-goldene Fahne; sie ist jetzt im Besitze des Turnvereins von 1846 als ein Vermächtnis von Schwarzenberg. Die hiesige Schützenkompagnie aber bewahrt noch 2 damalige Bürgerwehrlanzen auf, die ihr von ihrem ehemaligen Oberleutnant Karl Lorgi, unserem Gewährsmann für diese Darlegungen, übergeben worden sind. Jene Einrichtung war so recht das Erzeugnis einer Augenblicksströmung und hatte sich nach einem Jahrzehnt schon überlebt. Aber anfangs scheinen sich ihr viele mit heller Begeisterung zugewendet zu haben. So ließ auch die Stadt für die Bürgerwehr den großen Exerzierplatz herrichten, wegen der nahrungslosen Zeit als Notstandsarbeit, in der Hauptsache sollen ihn Posamentiere eingeebnet haben. Die 1862 gegründete Freiwillige Feuerwehr und der wieder belebte Turnverein scheinen zahlreiche Mitglieder der Bürgerwehr in sich aufgenommen zu haben.

Der Raum unter dem Exerzierplatze, der gegenwärtige Stadtpark, war damals noch eine Wildnis, mit Gebüsch, Heide und Sträuchern bestanden, wo sich die Kinder gern zum Naschen der reifen Früchte einstellten. Da wurde in den siebziger Jahren der Plan gefaßt, den wilden Streifen Land neben der Hutweide, der nichts weniger als eine Zierde der Stadt war, „gutmachen“ zu lassen. Leute, die sich der mühsamen Arbeit unterziehen wollten, bekamen die Zusicherung, daß sie ihren Teil 6 oder 12 Jahre kostenlos bestellen durften. Da begaben sich verschiedene ans Werk, und mit den Jahren wurde dort Stück um Stück des Bodens gerodet, der Basaltstücke entledigt und bebaut. Schließlich aber beschloß man unter Bürgermeister Keglers Leitung, dieses Land nicht mehr für die Feldbestellung zu vergeben, sondern darauf einen Park zwischen der Stadt und dem bepflanzten Berg anzulegen.

Der glückliche Gedanke kam 1884 unter eifriger Beteiligung der Einwohnerschaft zur Durchführung. Die gärtnerischen Arbeiten wurden dem Gärtner Löwe übertragen. Das Pflanzen aber sollten die zwei oberen Knabenklassen der Scheibenberger Schule besorgen. Als endlich alles vorbereitet und die Bäumchen zum Einsetzen besorgt waren, zogen die Schüler am 5. Mai bei prächtigem Wetter, voran Gustav Rau zu Roß, in festlicher Weise zum neuen Parkplatze, geleitet u. a. von Schuldirektor Schlegel, Organist Wickel, Kantor Paufler und Lehrer Schlegel. Ehe die jugendlichen Pflanzer an ihr Werk gehen konnten, fand eine schlichte Feier statt, bei der Gustav Rau als Erster der Schule ein für den Zweck verfaßtes Gedicht vortrug, dessen Anfang und Schluß hier stehen mögen:

Entstanden ist ein kleiner Hain,
gepflanzt von Kinderhand,
Gott gebe Wachstum und Gedeih’n
mit seiner Vaterhand.

Und wenn wir einst nicht mehr am Leben,
wenn viele Jahre vergangen sind,
mög‘ dieser Hain noch Zeugnis geben,
erinnern Kind und Kindeskind.

Nun pflanzte er mitten auf dem Plane eine besonders kräftige, bei der Kirche ausgehobene junge Linde; sie gedieh jedoch in der Folgezeit nicht recht und mußte 1913 dem Gedenkstein für Bürgermeister Kegler Platz machen. Im Geiste sehen wir auch alle anderen Knaben eifrig bei ihrer bedeutsamen Arbeit – verschiedene von ihnen wandeln heute als Männer in den fünfziger Jahren unter uns – sehen sie die bereitliegenden Bäumchen einsetzen und sorgsam einbetten. Zur Erinnerung an die Tat wurde an den Pfahl jeden Bäumchens ein Schildchen mit dem Namen des Pflanzers genagelt.

Mit Liebe und Achtsamkeit pflegten und beobachteten die Schöpfer des Parkes in der Folgezeit ihre Schützlinge, die ihnen zum großen Teil lebhafte Freude, zum Teil aber auch Enttäuschung bereiteten. Diese erste Pflanzung reichte bis zu dem Wassergraben hinauf, der von der Bergstraße quer hindurch nach der Westseite führt. Der obere Teil des Parkes, der jetzt das Ehrenmal für die im Weltkriege Gefallenen aufgenommen hat, wurde bald darauf mit städtischen Mitteln geschaffen. Der Weg an der Westseite, an der Landwehr entlang; wurde von den Schützen gebaut. Nun ist der einstmals wilde und wertlose Streifen Land zu einer wahren Zierde der Stadt und zu einem Orte stiller Erholung, ja Erbauung und edlen Naturgenusses geworden.

Erzgebirgische Heimatblätter Nr. 25 – Sonntag, den 20. Juni 1926, S. 1