Erzgebirgische Dorfspitznamen.

Von Wilhelm Günther, Leipzig.

(Mit Genehmigung des Verfassers aus früheren Heimatschutzblättern.)

Kommt da neulich zum ersten Male ein Reisender in ein obererzgebirgisches Dorf. Geschäftsbeflissen, wie solche Leute immer sind, nimmt er sein Buch heraus und studiert, indem er die Runde durchs Dorf antritt, das Kundenverzeichnis seiner Firma. Er fragt eine ihm entgegenkommende Frau: „Bitte, wo wohnt denn hier der Herr Gustav Albin Haustein?“ Keine Antwort. Die Gefragte steht betroffen da und sinnt nach, wer das wohl sein könnte; sie wird sich jedoch mit dem besten Willen nicht klar, weil es im Ort eine große Anzahl Familien, wohl zweiunddreißig, dieses Namens gibt und verschiedene Personen völlig gleiche Benennung haben. Kommt da dem Fragenden nicht die Hausnummer zur Hilfe, dann kann man sicher darauf rechnen, daß er als Auswärtiger immer mit Schwierigkeiten zu kämpfen haben wird, den Gesuchten zu finden.

Noch bekannter und geläufiger als die Hausnummern sind den Dorfbewohnern die Spitznamen; weiß der sich zu erkundigende Fremde den der zu suchenden Person zu nennen, wie etwa Schusterkarten-, Danelgetten- oder Meierrickenalbin, dann ist er mit größter Leichtigkeit aus aller Verlegenheit heraus; jedes Kind berichtet ihn dann so, daß er auf schnellstem Wege in das Haus gelangen kann.

Der Fall ist typisch. Er beweist, welche große Bedeutung die Spitznamen im Leben der Dorfbewohner besitzen; ohne sie wäre einfach nicht auszukommen. Der Familienname ist gewissermaßen nur das vornehme Aushängeschild, er gleicht dem äußeren Aufputz im Sonntagsstaate, während die Spitznamen die Leute im Werktagskleide zeigen, so wie sie sind, wie sie sich geben – ungezwungen und natürlich. Sie sind zweifelsohne das Ursprünglichste, Urkräftigste und Gesündeste im Leben der Dorfinsassen, daher auch ihre große Zähigkeit, mit der sie sich viele Generationen hindurch bis auf den heutigen Tag erhalten haben. Heimatschutz und Volkskunde aber sind gerade die beiden Forschungsgebiete, die ihre Bestrebungen darauf richten, das gutbewährte Alte in Treue zu schützen, das Urkräftige, Kernige, Gesunde und Schöne vor dem alles nivellierenden Modernismus zu bewahren. Es klingt in der Natur der Sache, daß die beiden ganz von selbst ihr reges Interesse auch auf das Werden, Bestehen und Vergehen des Dorfspitznamens richten.

Welcher Sinn liegt nun diesen Namen zugrunde? Ein spitzer Gegenstand verletzt, und die verursachte Wunde bereitet Schmerz. Der Betroffene sucht sich zu wehren und den Schaden von sich abzuhalten. In diesem Sinne sind von den Mitmenschen für andere die Spitznamen erfunden worden. Sie haben als Ursache irgend einen schlechten Hintergedanken, eine böse, versteckte Absicht, die darauf gerichtet wa<r, den andern zu kränken und zu ärgern oder ihm, wie der Volksmund sich in seiner Derbheit ausdrückt, eins anzuhängen. Man stellte durch diesen Beinamen körperliche und geistige Gebrechen des Nächsten, seine Laster und üblen Angewohnheiten, seine Albernheiten und dummen Streiche vor aller Welt bloß und wollte lediglich dadurch verletzen; sie sind also von Haus aus weiter nichts als Schimpfnamen, die darauf ausgingen, den andern herabzusetzen, zu ärgern und lächerlich zu machen.

Gewiß wird mancher versucht haben, einen solchen übel und schlecht klingenden Namen mit aller Gewalt abzuschütteln; jedoch, als das nicht half, gewöhnte er sich mit der Zeit daran, und seine Nachkommen fühlen heutzutage in dieser Beziehung nicht im entferntesten eine Beschimpfung und Beleidigung.

Solche echte Spitznamen sind z. B. Lahmelieb, Wackelhanne, Buckelhans, Dickenlob usw. Die bei weitem größte Menge ist entschieden erfunden worden, um die gleichnamigen Bewohner eines geschlossenen Gemeinwesens zu unterscheiden, haben also demnach keinen bösen Gedanken als Urheber.

Bei der Bildung derselben hat man vielfach die Rufnamen abgeschliffen, verkürzt oder verstümmelt und sie dann zusammengesetzt zu einem einzigen, dem Spitznamen, z. B. Durnfriedkarlob, Hansgörglieb. Auch spielt bei der Benennung die Diminutivendung eine große Rolle. Gewöhnlich hängt man einer schwächlichen, unansehnlichen und kleinen Person, meist schon in der Jugend, am Namen ein el an, z. B. Gustel, Arnstel, Henerettel, Heibel, und der Junge behält ihn bis in sein spätes Alter, selbst wenn er der Regel entgegen noch recht korpulent werden sollte. Wir halten es hier für angebracht, erst einmal etwas näher auf die Abkürzungen einzugehen, wenn wir die Bildung der Spitznamen recht verstehen wollen. Folgende Beispiele mögen das erläutern:

Josef (Gosef, Seff), Ignaz (Natz), Ferdinand (Nand, Nandel), August (Aukel, Gust, Gustel), Gustav (Tav), Michael (Michel), Alexander (Sander), Friedrich (Fritz, Fried, Friedel), Henriette (Jette, Gette, Gettel), Imanuel (Manel, Manele), Philipp (Filp), Christoph (Toffel), Gottlieb (Lieb, Liebel), Gottlob (Lob, Lobel), Benjamin (Benj, Benig), Johann (Hans, Hansen), Johanne (Hanne, Hannel), Adam (Adern), Therese (Rös, Rösel), Helene (Lene, Lenel), Luise (Liesel), Dora (Dure, Durl), Konkordia (Korde, Kordel), Juliane (Gojane, Gule), Daniel (Danel), Karoline (Line), Friedericke (Ricke), Andreas (Aneres, Anersch), Wilhelm (Halm, Heibel), Wilhelmine (Mine, Minel), Georg (Görg), Rosalie (Sale), Christiane (Christ, Christel), Eduard (Ward, Wad) usw.

Eine Reihe Spitznamen sind aus Gewerben hervorgegangen; man redet da von einem Tuchmachergustav, Bretschneidergettel, Schneideraukelrobert, Flaschenhalm, Schusterhans, Beckenlob, Bauermanel, Korbmacherlob, Müllerlobgust, Wabertoffel, Bortenmichel, Bräuerpaul, Tischerrickenfritz usw. Etliche Namen wieder bezeichnet man nach Amt und Würden, wie Kanterrobert, Schulsander, Pfarrheinrich, Richterpaul, Miehframinel, Försterchristel, Einnamerrosel, Wachtergust usw.

Aus örtlichen Verhältnissen und Flurnamen sind hervorgegangen: Gartenliebfritz, Lahmgrubnarnst, Gemamühlkarl, Resigmühlgustav, Stabargaugust, Hanelgutrobert, Stroßengutkarlob, Sandgrubngust, Bachelfritzlieb, Pantoffelmoritz, Häuselgörglobel, Vugelgörgkarl, Stöbelhannemoritz usw.

(Fortsetzung folgt.)

Erzgebirgische Heimatblätter Nr. 42 – Sonntag, den 17. Oktober 1926, S. 3