Aus der Gründerzeit der Buchholzer Posamenten-Industrie.
Guido Wolf Günther
Leider hält sich diese Version der Geschichte bis heute, obwohl bereits Louis Bartsch (1905) und zuletzt Joachim Reim (2002) diese widerlegt haben.
Nun leb‘ wohl, du kleine Gasse.
Stand da auf der Langen Gasse in der ehrwürdigen und freien Reichsstadt Dinkelsbühl in Schwaben ein Häuslein, das mit Sparrenwerk und buntblumigen Erkern gar fürwitzig in die Zeile der engen Pflasterung sprang. Just, als seien die Menschen darin von besonderer Art und wollten den wohlehrbaren Bürgern auf Schritt und Tritt durch die Lange Gasse solche Meinung kundtun. Dabei war der Jakob Einenkel, der mit Weib und Kindern ein fröhlich Leben im kecken Häuschen hauste, gar nicht so anmaßend, sich für wichtiger zu halten, als z. B. den Nachbar Rätherle, der den Einenkel-Buben umschichtig neue Hosenböden einsetzte, wenn die Weidenstümpfe an der Wörnitz gar zu arg gezaust hatten. Und doch konnte Meister Jakob stolz sein, denn in seiner Kunst hatte er es weiter gebracht, als die anderen Meister seines Faches, und wer gelten wollte beim Balle, den ein hochwohlbürtiger Ratsherr feierte, der trug Posamenten vom Meister aus der Langen Gasse. Wohlfeil waren Meister einenkels Tressen, Borten, Geschlinge und Filigrane nicht, aber sie waren hauchfein und zart wie die Fäden, die im Altweibersommer glitzernd durch die Luft schweben. Wasmaßen denn auch Frauen und Mägdlein der Dinkelsbühler Geschlechter gerne Meister Jakobs kunstvolle Arbeit kauften und nicht lange feilschten; denn handeln ließ der Meister nicht mit sich, weil ihm seine Zierate waren wie Kinder, an denen er mit Handwerkerstolz hing!
Da war es denn kein Wunder, daß Georg Einenkel, des Meisters zweitältester Sohn, am Himmelfahrtstage mit aller Zunftmeister Lob sein Gesellenstück gezeigt und zum handwerksehrlichen Posamentier-Gesellen gesprochen worden war. Nun standen Vater und Mutter abschiedsbangen Herzens an diesem lenzseligen Trinitatismontag des Jahres 1585 im engen Gäßchen, durch das eben Georg Einenkel mit Felleisen und Knotenstock schritt, um altem Brauche die Ehre zu geben und auf kreuzquerer Wanderschaft sich zum Meister zu vervollkommnen. Und das Vaterhaus war heut‘ wie eine alte, gute Freundin, die sich den Hals ausrecken möchte, um immer und immer noch ein letztes Zipfelchen vom Wanderburschen zu erspähen, also schauten die blanken Fenster und die Geranienstöcke in die Lange Gasse hinein, bis ein ebenso fürwitzig vorspringender Giebel den jungen Gesellen den Blicken entzog.
Zwei junge Gesellen gingen vorüber am Bergeshang.
Freundlich winkten schon Kreuz und Adler vom St. Stephansdom, als kurz vor Wien der Wandergeselle Georg Einenkel zur Seite seines Wanderweges letzten Notschrei eines Menschen hörte. Und Schwabenblut kochte auf, und der Knotenstock – vom Vater selbst noch im schönen Virmgrunde geschnitten – sauste, und ein junger Gesell, Christoph Thiel geheißen, dankte dem Dinkelsbühler Meistersohn Leben und Zehrpfennig! Grund genug zu treuer Freundschaft der beiden jungen Gesellen, die merkwürdiger Schickung Dank auch vom gleichen Gewerbe waren.
Zweimal schieden Lenz und Winter schon, da zog die Stadt des Böhmenkönigs die beiden Freunde zu sich, und Christoph Thiel fand gar im großen Prag ein liebes, kleines Weibchen, eines angesehenen Meisters lieblich Töchterlein. Georg Einenkel aber blieb der treue Freund des jungen Paares und half manches Wölkchen verjagen, wenn fremde Sitte sich trennend zwischen die jungen Eheleute stellen wollte.
Und Liebe, die folgt ihm, die geht ihm zur Hand.
Bis dann ein blütenreicher Sommer mit Vogelsang und Schwalbenflug des Wandergesellen Blut wieder rebellisch machte. Dergestalt, daß Georg Einenkel nach herzinnigem Abschied von seinen jungen Freunden, mit Empfehlungsschreiben wohl versehen, sich aufmachte nach der Bergstadt St. Catharinenberg im Buchholze. So schnell ließ ihn aber das gesegnete Böhmerland nicht los, und die bergige Wildnis der böhmischen Wälder bot manches Hindernis: so mag wohl schon Septembersonne auf den Häusern Buchholz‘ gelegen haben, als der Posamentiergeselle vom böhmischen Weg herunterstieg ins Sehmatal, das ihn bald zur steillehnigen Stadt wies. Recht als Zunftwappen und glücklich Omen hatte sich dem Dinkelsbühler beim Streifen durch das Tal ein silbern Gewirr von Altweibersommerfäden übers braune Wams gesponnen, just als wollte Meister Jakob aus der Langen Gasse daheim seinem Jungen Gruß und Glückwunsch senden.
So zog der Schwabe Georg Einenkel im Spätsommer des Jahres 1589 in Buchholz ein und ward Schicksal und Wegweisung für viele Gebirgler, und – ist selbst zum treuen Sohn seiner zweiten Heimat geworden! – Zwei Bänder legte Georg Einenkels Lebensgang um ihn: Liebe und Kunst! Denn nachdem der fremde Vogel heimisch geworden war im warmen Nest, das freundliche Wirtsleute ihm bereiteten, gingen auch des jungen Gesellen blanke Augen wacher durch die Menschen und blieben gebannt im Anblick der lieblichen Nichte des Wirtes. Und ehe noch die Blätter fielen, glänzte das Ringlein der Treue an Friederikens Goldfinger, und Georg Einenkel ließ alle Liebeslieder der schwäbischen Heimat um seine Herzliebste jubelnd aus übervollem Herzen! Seine Kunst aber wurzelte fest im Buchenwald und fand bald auskömmlichen Verdienst, denn wo Silber gefunden wird, tragen die Taler bald tausendfachen Zins, und feiner Zierat, wie ihn Meister Georg Einenkel fertigte und seine Gesellen, war gern begehrt. Ja, Georg Einenkel war Meister geworden und Stadtbürger dazu und – daß ich’s nicht vergesse! – glücklicher Ehemann dazu, dem sein Eheweib mit flinken Fingern manch neues Muster bilden half.
Und als aus Prag Freund Thiel mit Weib und Kind nach der Stadt im Buchenholze zog und als der Niederländer Jakob Schiek – um seines Glaubens willen vertrieben – sich zu den zwei Meistern fand als kunstverständiger Dritter, da war der Anfang getan zur „Posamenten-Manufaktur“, die durch Jahrhunderte hindurch Brot und Ruhm ins Erzgebirge brachte! – Der grauverschleierte Februartag, der 1641 den sechsundsiebzigjährigen Meister ausruhen ließ im Schoße der liebgewordenen Bergheimat, löschte nur sein arbeitsreiches Leben aus; seine Kunst aber wird leben bleiben im Gebirge und auch durch Maschinen nicht ganz verdrängt werden.
(Anmerkung: Dem Verfasser ist wohl bekannt, daß die Dinkelsbühler Abkunft des Begründers der Buchholzer Posamenten-Industrie geschichtlich nicht erwiesen ist. Doch da im 16. Jahrhundert Kirchenbuchangaben auch nicht zweifelsfrei sind, möge dem Verfasser gestattet sein, der älteren Ueberlieferung nachzugehen.)
Erzgebirgische Heimatblätter Nr. 42 – Sonntag, den 17. Oktober 1926, S. 2