Erzgebirgische Dorfspitznamen (3)

Von Wilhelm Günther, Leipzig.

(Mit Genehmigung des Verfassers aus früheren Heimatschutzblättern.)

(Fortsetzung und Schluß.)

Oftmals kommt es auch vor, wenn wir bei dem in letzter Nummer angeführten Beispiel bleiben, daß der betreffende Junge von seinen Spielgenossen auch nach der Mutter genannt wird, und weil diese die Tischerrickengette ist, so heißt der Sohn nach ihr der Tischerrickengettenkarl. Beide Benennungen bestehen oft jahrelang nebeneinander; schließlich überwiegt aber doch die eine und wird die allein gebräuchliche. Der Volksmund wählt mit Vorliebe die sprachlich leichtere Form; er schleift ab und sagt nicht Hansgörgliebkarl, sondern Hansgörgkarl und aus Tischerrickengettenkarl macht er einfach Tischerkarl. Nur in dem Falle, daß in der Dorfgemeinde unterv stammverwandten Familien ein Name doppelt vorkommen sollte, dann bleibt zum Unterschiede der beiden, bei dem einen wenigstens, die weitere, auch sprachlich unbequemere Form bestehen. Der eine heißt weiter der Danelgettengustav, der andere nur der Danelgustav, und jeder weiß, wer mit diesem Namen gemeint ist. Diese Namengebung erweist sich mithin als eine Notwendigkeit, weniger für den, der ihn führt, als für die, die ihn gebrauchen.

In bezug auf die Uebertragung des Namens vom Vater oder der Mutter auf das Kind denke ich da an einen recht spaßigen Fall. Ein sechsjähriger, aufgeweckter Junge kommt nach Hause, stellt sich aufgeregt, wie er war, vor die Mutter hin und sagt: „Hörste, Mutter, sa mer ner amol, war ich ogentlich bi; bi ich dä der Hanaukelkurt oder der Filpmichelkurt.“ „Ja“, meinte seine Mutter, die Hanaukelemilie, „mei guter Gung, dos könne mer net bestimme, dos machen de anern Leit.“

Im allgemeinen ergibt sich folgendes: Meistens geht der Name entweder nur vom Vater oder nur von der Mutter allein auf die Kinder über; welcher von den beiden eintretenden Fällen öfter vorkommt, läßt sich nicht mit Sicherheit bestimmen; es ist wohl im großen und ganzen gleich. Der Volksmund wählt in der Namengebung fast immer die kürzere, bequemere Form, geht aber auch mitunter, aller Regel entgegen, recht seltsame, eigenartige Wege.

Zum andern tritt auch der Fall ein, daß die Kinder ein- und derselben Familie zu gleicher Zeit sowohl nach dem Vater als auch nach der Mutter gerufen werden, oder, daß die Söhne des Vaters Namen, die Töchter dagegen den der Mutter tragen. Schließlich kommt es auch vor, daß ein in eine andere Familie einheiratender Mann oder Frau ihren bisherigen Namen verlieren und dafür im Volksmunde den der anderen Ehehälfte annehmen. Ja sogar das Haus, auf dem meistenteils der Spitzname der lang eingesessenen Familie ruht, kann die Namengebung der zur Miete wohnenden Personen beeinflussen.

Die Namengebung hängt mitunter von Zufälligkeiten ab, die man hinterher mit dem besten Willen nicht begreifen und verstehen kann. In eine Dorfgemeinde zog früher einmal ein Mann aus Mauersberg. Wie der Wind so schnell hatte er von den Bewohnern, weil er so unscheinbar und klein war, den Namen Mauersberger Mannel bekommen. Die Kinder seiner Ehe wurden nicht anders als die Mannelgunge und die Mannelmad genannt, und einer von den letzten Sprossen dieser weitverzweigten Familie ist der Mannelmadfritz.

Andere fremd Herzugezogene wurden nach dem Orte ihrer Herkunft genannt. Ein ehemals aus Lauterbach und Steinbach Eingewanderter heißt nur im Volksmund der Lauterbacher und der Stambicherma; den aus Kühnheide nennt man nur den Kühhadner, den aus Mildenau den Milnaer usw.

Der Benigaugust und der Beniglieb waren ehemals Brüder; von letzterem wieder stammen ab der Benigliebkarl und Benigliebchristian. Beide haben eine Tochter, namens Anna, die, wenn es genau nach der Tradition ginge, der Volksmund doch Benigliebkarlanna und Benigliebchristiananna nennen müßte. Das tut er aber nicht, sondern ruft sie der Kürze wegen alle beide Benigliebanna. Sie sind längst nach auswärts verheiratet; kommen sie aber einmal in ihre Heimat zu Besuch, so heißt es: „Die Benigliebanna ist da.“ „Ja, welche denn?“ Dann hilft man sich, indem man hinzufügt: Dem Christian seine oder dem Karl seine. Wären sie jedoch im Dorfe und somit dauernd im Volksmunde geblieben, so hätte dieser, um die gleiche Benennung zu umgehen, sicher die eine mit dem obigen weiteren Namen belegt, oder vielleicht gar der Kürze wegen die eine die Karlanna, die andere Christiananna genannt. Immer und immer wieder egeben sich neue Wendungen, die man mit Beispielen ohne Ende belegen könnte.

In letzter Zeit scheint es öfter vorzukommen, daß der Volksmund ganze Generationen hindurch bestehende Stammnamen fallen läßt und dafür den Rufnamen des Vaters oder der Mutter einsetzt. Die Frau desw Heßkartenrobert z. B. stammt aus Grumbach (Nieder- bez. Oberdorf) und führt den Namen Mühlberta: ihre Kinder ruft man nur Bertarobert und Bertalenel; ebenso nennt man die Söhne vom Richterferdinand nur Ferdinandemil und Ferdinandalbin, die vom Granertgust nur Gustmax, Gustrichard und Gustrudolf. Die Salefrieda ist die Tochter der Michelrickensale, die Karlinelina die vom Flascherhalmkarlinel und die Lobelmarie und Lobelemilie sind die Töchter vom Häuselgörglobel.

Den Gebirgsdörflern sind die Spitznamen so in Fleisch und Blut übergegangen, daß sie beim Ruf derselben absolut nichts Fremdartiges und noch viel weniger Beleidigendes erblicken; im Gegenteil, es paßt ihnen hinten und vorne nicht, wenn sie von bekannter Seite beim Familiennamen, wie etwa Seifert, Ullmann oder Haustein gerufen werden. Das fassen sie mitunter sogar als eine Zurücksetzung auf. Ganz anders liegt die Sache, wenn der Spitzname schriftlich fixiert wird, etwa in einer Dialektgeschichte. Wenn da der Betreffende seinen Namen liest, so wird er stutzig; er ärgert sich und macht ein böses Gesicht. Wie erklärt sich das? Der in der Schrift gebrauchte Name ist ihm etwas ganz Ungewöhnliches, und er denkt nicht anders, als daß irgendwie eine böse, versteckte Absicht vorgelegen haben muß, seinen Namen vor aller Welt bloßzustellen. Tatsächlich spielt er den Beleidigten. Es ist das ein altes Vorurteil und eine völlige Verkennung der Tatsache, daß mit der Aufzeichnung der Spitznamen ein Stück ursprüngliches und unverfälschtes Volksleben der Vergessenheit entrissen werden soll.

Welchen Weg die Spitznamen durch die Generationen eingeschlagen haben, kann man nicht wissen, weil leider schriftliche Aufzeichnung davon nirgends zu finden sind. Es könnte aber nach dieser Richtung hin manches im Interesse des Heimatschutzes getan werden von dazu wohl am besten geeigneten Personen; diese sind unstreitig der Pfarrer und der Lehrer. Sie müßten dem Kirchen- und Schularchiv entsprechend eine Spitznamenliste anlegen und bei Taufen, Hochzeiten, Begräbnissen, bei Schulaufnahmen und Schulentlassungen Eintragungen über Abstammungen und Familienverzweigungen machen. Diese allwöchentlich kleine Mühe würde mit der Zeit ein urkundliches Material schaffen von größtem Werte. Das ist in der Forschung ein Stoffgebiet für sich, das man aber leider nicht zu bearbeiten imstande ist, weil alle Unterlagen dazu völlig fehlen. Sollte von hier aus das ausgestreute Körnchen in Form einer Anregung zur Mitarbeit auf fruchtbaren Boden fallen, so wäre viel erreicht.

Erzgebirgische Heimatblätter Nr. 44 – Sonntag, den 31. Oktober 1926, S. 2