Ein unbekanntes Schneelauf-Paradies.

(Aus dem Wettbewerb des Erzgebirgs-Verkehr.)

Der Erzgebirgs-Verkehr, Gemeindeverband zur Hebung des Fremdenverkehrs im Erzgebirge hatte unter dem Vorsitz des kürzlich verstorbenen Kammerrat Bürgermeister Herrmann in Lauter ein Preisausschreiben für schriftstellerische Arbeiten über die Vorzüge und Schönheiten unseres Erzgebirges veranstaltet. Eine von den mit Preisen ausgezeichnete Arbeit des Herrn Baurat Voigt, Dresden, geben wir heute wieder.

Mit den Heeresberichten über die Erfolge unserer braven Schneeschuhbataillone in den Alpen, Karpathen und Vogesen ist die Bedeutung des Schneelaufes bis in die entlegenste Hütte unseres Vaterlandes gedrungen. Die ungeheure Sportwelle, die der Vertrag von Versailles im deutschen Volke entfesselte, riß auch die weiße Kunst mit einem machtvollen Schwung nach vorwärts und heute bekennen bereits Tausende, daß es keine schönere und gesündere Leibesübung gibt als den Schneelauf. Er führt uns in die verschwiegenen Hallen des Winterwaldes, er trägt uns empor zu glitzernden Höhen und leiht uns Flügel zu frohlockender Talfahrt. Jeden Nerv, jeden Muskel, jedes Organ spannt er in seinen Dienst. Da schwingt der Hammer des Blutes in rascherem Takte, das Auge füllt sich mit Feuer und Glanz, und von dem Drucke der Fesseln befreit, hebt sich der Körper im Rausche der Kraft.

Fichtelberg. — Weg zum Keilberg.
Vom Fichtelberg führt ein Weg — hier beschneit im Sonnenschein — in 1 ½ Stunde zum benachbarten Keilberg.

Unter dem Zepter der Mode sind zahlreiche Wintersportplätze emporgeblüht, und allerwärts wirbelt jetzt die Trommel geschäftigen Werbesinns. Es ist verständlich, daß die Alpen auch hierbei ihre besondere Anziehung ausüben. Die erhabene Majestät der südlichen Bergwelt wird durch das Winterkleid zu unbeschreiblicher Pracht gesteigert und die Ausstattung der Fremdenhöfe mit allen Bequemlichkeiten einer verfeinerten Kultur bildet für die Ansprüche des Gesellschaftsmenschen unserer Tage die unentbehrliche Zutat. Wie auch im Sommer, bleibt es aber für viele nur beim Anblick der Alpen, weil Natur und Wetter ihrem unzureichenden Können eherne Schranken setzen. Die große Menge wird dabei nichts entbehren und in der alltäglichen Kurzweil der Wintersportplätze ihr volles Genügen finden. Aber der Schneeläufer von weither wird es bedauern, wenn ihn der Mangel alpiner Technik an den Vorhof der Riesen kettet. Das Hochgebirge wird immer das Reservat einer Auslese von Fertigen bleiben. Und das möchte es auch, wenn wir nicht dieselben trüben Erfahrungen machen wollen wie beim sommerlichen Alpinismus.

Für den größten Teil unserer schneelaufenden Bevölkerung ist das Mittelgebirge der gegebene Tummelplatz. Geographisch sind viele überhaupt auf das Mittelgebirge angewiesen. Wohl denjenigen, denen Wohnsitz und Bahnverbindung über Sonntag mit geringem Aufwand an Zeit und Kosten auf die geliebten Bretter verhilft. Schwarzwald, der Harz, Thüringer Wald und Riesengebirge sind schon längst an Wintertagen ein vielhundertfaches Ziel. Nur das Erzgebirge ist als Schneelaufgebiet außerhalb seiner Landesgrenzen noch unbekannt. Und von diesem soll hier die Rede sein.

Am Südrande von Sachsen zieht sich das Erzgebirge als natürlicher Grenzwall gegen die Tschechoslowakei in südwestnordöstlicher Richtung hin. Der Kamm hat eie Ausdehnung von 100 Kilometer. Seine Gipfel erheben sich bis über 1200 Meter. Zahlreiche Täler sind in seine Hänge eingeschnitten und geben durch Wechsel von Blößen und Baumbestand dem Schneeläufer ein hervorragendes Wirkungsfeld. Die Schneelage ist durch eine außergewöhnliche Niederschlagshöhe und durch den Hauptabfall des Gebirgsstockes nach Norden unbedingt sicher. Der normale Winter beginnt Anfang November und verabschiedet sich selten vor Ende April. Oft wird da oben der Mai noch auf den Brettern begrüßt. Während der Wintermonate geht das Thermometer eigentlich nur bei Föhn über Null herauf. Der Schnee ist daher auch in den höchsten und freiesten Lagen selten verharscht und größtenteils feinpulvrig. Im Frühjahr wird er dann firnig wie im Hochgebirge, so daß er selbst in der prallenden Märzensonne nicht mehr pappt. Die Osterschneefahrten sind darum im Erzgebirge besonders beliebt. Man kann da wundervoll in Sonne baden und kehrt als waschechte Rothaut zurück.

Der Schneelauf ist den Einheimischen altgewohnt. Die Jugend beherrscht ihn oft schon vor dem ABC. Erzgebirgsläufer sind im deutschen Skiverband gut vertreten und gingen aus den großen Wettkämpfen schon wiederholt als Preisträger hervor. Der Sprunglauf wird mit besonderem Eifer gepflegt. Jeder Ort hat seinen Sprunghügel, und Großkampfschanzen gibt es mehr als genug. Zehnjährige Buben stehen 25 Meter mit einer verblüffenden Selbstverständlichkeit.

Es ist eine besondere Freude, Jungdeutschland dabei in seinem heiligen Ernste zu sehen. Alljährlich im Januar wird im Skiverband Sachsen die Meisterschaft ausgetragen. Ein großes Ereignis, an dem das ganze Land den lebhaftesten Anteil nimmt. Die Krone der Wettkämpfe bildet überlieferungsgemäß das Osterspringen an der riesigen Keilbergschanze, die von den Deutschen in Böhmen erbaut worden ist. Nur erste Wahl trifft sich da zum vornehmsten aller Turniere und zeigt einen Stil, der eines Heldenliedes würdig ist. Die Schanze hat einen Aufsprung von fast 100 Metern. Sprungweiten von 50 Meter sind dort schon erreicht worden.

Das weiße Herz des Erzgebirges ist Oberwiesenthal. Es liegt eingebettet in einen Kranz freier Hänge zwischen dem sächsischen Fichtelberg und dem böhmischen Keilberg, den beiden Großen des Kammgebietes. Ein Städtchen von mehreren Tausend Einwohnern, das sich mit seinen 972 Meter rühmen darf, das höchste im ganzen Reiche zu sein. Seitdem es zum Wintersportplatz aufgerückt ist, fehlt dort nichts mehr, was auch der Verwöhnteste sich wünscht, einschließlich Fünfuhrtee und Jazzbandmusik. Ein großes Sporthotel steht da in behäbiger Breite, auf dessen Altanen man sich im Liegestuhl sonnen kann. Der Marktplatz ist von neuen Fremdenhöfen umflankt und die Straßen stecken voller Bürgerquartiere. Das Schneelaufgelände von Oberwiesenthal ist ideal. Unter den Hängen ringsum hat man die Auswahl von luftraubender Steile an bis zu großmütterlicher Sanftheit. Kein gehässiger Baum steht dem Anfänger im Wege und wohltätig hat der Schnee der Allmutter Runzeln verhüllt. Der Talkessel ist nur nach Süden durch einen flachen Einschnitt geöffnet, liegt also sonnig und windgeschützt. Das Ameisengewimmel der Schwungbeflissenen verteilt sich wohltuend in die Weite und stille Winkel dämpfen die Seufzer der Ungelenken. Für die Bobfahrer ist eine neue Bahn mit knifflichen Windungen angelegt und die Abgedämpften und Bequemen trägt eine Drahtseilbahn auf den Gipfel des Fichtelberges hinauf.

Oberwiesenthal ist von Dresden und Leipzig aus schnell und umstandslos zu erreichen. Im Winter stellt die Reichsbahn Sonderzüge dahin ein. Es lohnt sich, das Städtchen für einige Winterwochen zum Standort zu wählen. Wer den Trubel nicht liebt, kann von dort aus den Kamm durchkurven. Überall findet er gute Einkehr und wechselreiches Gelände. Die Ortschaften sind auf Fremdenbesuch eingerichtet, da sie im Sommer viele Gäste beherbergen.

Mit dem Erzgebirger läßt sich’s gut umgehen. Wie bei allen, die seit Jahrhunderten abgeschieden leben, haben sich bei ihm alte Gebräuche bis auf unsere Tage erhalten. Namentlich die Wintersportzeit ist reich daran, und wer dafür Augen und Ohren hat, kann manches volkskundliche Kleinod entdecken.

Der Grenzverkehr mit dem benachbarten Böhmen macht keine Schwierigkeiten und wird bei fehlendem Paß durch Ausweis der Polizeibehörde ermöglicht. Die Grenzbevölkerung drüben ist gut deutsch. Wenn der Schlagbaum nicht wäre, am Wesen merkte man es bei ihnen nicht, daß man außer Landes ist. Hüben und drüben geht es gern lustig zu, und wer da meint, der Erzgebirger sei still wie seine Wälder, wird bald zu einer anderen Ansicht kommen.

Das Eigenartige an der Erzgebirgslandschaft sind die Hochmoore. Sie sind im Sommer ungangbar und bilden ein Gewirr von offenen Tümpeln mit schwammigem Untergrunde. Im Winter liegen sie da als weite endlose Flächen, die Torfstiche vom Froste erstarrt, und das Knieholz tief unter dem Schnee begraben. Es ist ein wunderbares Gefühl, stundenlang durch ihre weiße Einsamkeit zu gleiten. Kein Geschöpf, kein Zeichen menschlicher Gegenwart weit und breit, kaum eine Wildfährte, nichts als Schnee und das Schweigen der fernen Gipfel.

Wenn der Föhn über die Hochmoore rast, saugt sich sein Odem voll Wasserdampf. Dann wandeln sich unter seinem feuchten Hauche die Tannen der Höhen zu wunderlichen Gestalten. Ungeheuer der Vorzeit stehen am Morgen da neben knixenden Prinzeßchen im Reifrock und Millionen kristallener Schellen läuten zum Preise der siegreichen Sonne. Rauhfrost nennt es die Wetterwarte und zerschlägt mit dem Namen den Duft der köstlich zarten Gebilde.

An den Ostgiebel des Fichtelberghauses lehnt sich ein starker Turm. Der Frost hat um ihn einen Panzer gelegt und von seinem blitzenden Helme starren glasige Stacheln herab. Allmorgendlich beim Aufgange der Sonne grüßt er seinen gewaltigen Oheim auf dem fernen Plane der Völkerschlacht, dann aber umfängt sein Blick das Wunder zu seinen Füßen, wie ein riesiger Weihnachtstisch ist das Land unter ihm ausgebreitet, bezuckerte Wälder sind aufgebaut und Städte und Dörfer in die Falten der Decke geschmiegt. Und siehe, es lebt. Menschlein krabbeln aus Gassen hervor, und durch die Luft schwingt die Stimme der Glocke. Auch in dem Berghause beginnt es zu poltern, und die Schornsteine stecke sich graue Fähnchen auf. Dann kommen sie, einer, zwei, zwanzig und mehr nacheinander. Links gebückt, rechts gebückt, Handschuhe an, Stöcke fest — hui, geht’s um die Ecke und die Himmelsleiter hinunter! —

Ein paar schlafen noch fest. Sie kamen erst gegen Morgen ins Bett. Die Mondnacht hielt sie gefangen. In ihren Träumen schreitet der Hirsch über den taghellen Bruch und führt sie auf Pfade von unsagbarer Schönheit.   „Sie waren ganz still, als sie heimkamen“, soll der Türschließer erzählt haben, „aber aus ihren Augen strahlte ein überirdisches Licht.“

Erzgebirgische Heimatblätter Nr. 9 – Sonntag, den 26. Februar 1928, S. 1