Stille Nacht, heilige Nacht …

Nun klingt das alte, schöne Weihnachtslied wieder über die verschneiten Berge unserer erzgebirgischen Heimat, und in Hütten und Häusern stehen die holzgeschnitzten Figuren der Weihnachtskrippe, so wie wir sie hier auf dem Titelbild unseres heutigen Heimatblattes sehen. Weihnachten im Erzgebirge – das ist ja ein gar seltener Schatz, einer, der uns geblieben ist, wenn auch längst aus unseren Bergen der Silberreichtum verschwunden ist. Weihnachten im Erzgebirge – so klang- und sangesfroh, so voll märchenhaften Schimmers ist’s nirgends wieder in der ganzen Welt.

Wenn die heilige Nacht von Himmelshöhen zu uns herniedersteigt, dann stehen neben Weihnachtsbaum, Pyramide und Christgeburt die alten Bergleute in ihrer schmucken Tracht, das Lichtlein in der Hand, Wahrzeichen unsrer alten Bergmannszeit – da frohlockts in aller Herzen: Glück auf! Glück auf! Erzgebirgler! hüte, wahre deinen Schatz, er ist ein Magnet, dessen Kraft den Erdenball umspannt, soweit erzgebirgische Herzen schlagen. Aber laß auch das Schatzkästlein erzgebirgischer Weihnachten eine lebendige Kraft haben, laß die Figuren deiner Weihnachtskrippe zu dir sprechen – damit dein Herz, deine Seele frohe Weihnachten feiere. – Schau hinein in deine Weihnachtskrippe – sieh dort die Verkündigung, sieh die bestürzten Hirten auf dem Felde. Und schau hinein in den Stall zu den beglückten Jesuseltern, die das Wunderbare noch gar nicht fassen.

Da liegt das Kindlein in der Krippe, ein Kindlein, das zunächst nichts Ungewöhnliches den Blicken darbietet. Es ist gestaltet wie andere Kinder auch, klein, schwach, hilflos. Es muß getragen und gehoben werden, es bedarf der Windeln zum Schutze gegen die Kälte, der Mutterbrust zu seiner Nahrung, der Ruhe und des Schlummers zu seinem Gedeihen. Und doch welch‘ ein Wunderkind, das Kind von Bethlehem! Wie geheimnisvoll ist seine Geburt! Es ist von einer reinen Jungfrau geboren und auf eine so ungewöhnliche Weise in die Welt gekommen, daß auch der Engel Gabriel nichts anderes zur erklärung beizubringen weiß, als daß bei Gott kein Ding unmöglich ist. Aber noch Größeres haben wir von dem Kinde zu melden. Dieses Kind ist der ewige Sohn des Vaters, Gottes Sohn hat seine Herrlichkeit abgelegt und ist Mensch geworden. Es hat einen menschlichen Leib, eine menschliche Seele und menschliche Sinne empfangen; es ist der menschlichen Entwickelung und Schwachheit unterworfen und uns in allem gleich geworden, ausgenommen die Sünde. Dieses Kind ist, um es noch deutlicher zu sagen, derjenige, durch den die Welt geschaffen ist, durch den alle Dinge bestehen und in dem sie ihr Wesen haben; derjenige welcher nach vollbrachtem Werk in den Himmel zurückgekehrt ist und von dort aus die Weltbegebenheiten leitet.

Armseliger hätte nie ein Kind auf Erden geboren werden können: eine Krippe seine Wiege, ein Stall seine Geburtsstätte, Heu und Stroh das erste Lager, auf dem es gebettet wurde. Und doch, wenn ein Menschenkind wert gewesen wäre, unter den beneidenswertesten Verhältnissen geboren zu werden, so wäre es dieses Kind von Bethlehem. Ist es doch der eingeborene Sohn Gottes, das Ebenbild seines Wesens und der Abglanz seiner Herrlichkeit, mit der von Ewigkeit her gleichen Macht und gleichen Herrlichkeit, der sich dort kleidete in unser armes Fleisch und Blut.

Und dem armseligen Anfang entsprach der Fortgang seines Lebens. Wenn auch gleich nach seiner Geburt die Weisen aus dem Morgenlande kamen, um ihm zu huldigen, so regte sich doch bald der Haß des Herodes, der dem Kindlein nach dem Leben trachtete. Als ein armer Rabbi ist er in der Folge unter seinem Volke gewandelt, arme Fischer und verachtete Zöllner waren seine Jünger, während sich die Vornehmen verächtlich von dem Nazarener abwendeten. Arm war er auch im Sterben. Während sein erstes Bett die Krippe von Bethlehem war, bot ihm die Welt zum Sterben kein anderes Bett, als das schauerliche Holz des Fluches, das Kreuz von Golgatha.

Und alle diese Armut erwählte er, ob er wohl reich war, ob er wohl unter den Lobgesängen der himmlischen Heerscharen hätte wohnen bleiben können, ob er wohl hätte bleiben können in der himmlischen Herrlichkeit, die er bei dem Vater hatte, ehe der Welt Grund gelegt war.

Siehe, das alles, lieber Erzgebirgler, kündet dir heute deine Weihnachtskrippe. Suche ihr Bild darum nicht nur mit deinen Augen, suche es auch mit deiner Seele zu erfassen, und bete das Kindlein an mit frommer Scheu; denn siehe, nur einmal im Jahr – heute – ist ja:

Stille – heilige Nacht!

Erzgebirgische Heimatblätter Nr. 50 – Sonntag, den 25. Dezember 1927, S. 1