Die Eisjungfrau (3)

Weihnachts-Erzählung aus dem Erzgebirge von Ch. Engel.

(Fortsetzung und Schluß.)

Schweißtriefend und mit klopfendem Herzen erreichte er endlich beim letzten Hause des Dorfes den Wald und schlich sich vorsichtig von Baum zu Baum. Es war schrecklich! Bei jedem Schritt knirschte der hartgefrorene Schnee unter seinen Füßen, und die mit Rauhreif überzuckerten Tannen und Fichten sahen aus wie lauter weiße Geister, die ihre von Schnee und Eis gebeugten Häupter ganz tief herabneigten, als wollten sie ihm strafend ins Gesicht sehen, daß er es wage, zur Nachtzeit in ihr Reich einzudringen; und dabei herrschte eine unheimliche Stille. Er getraute sich kaum zu atmen und kam nur noch mühsam von der Stelle.

Endlich war der Wald aber doch zu Ende und die Grenze überschritten; und nun kam das Schlimmste, sein Weg führte durch den Schönjungferngrund! Ob er es wohl wagte, hindurch zu gehen? Er war zwar an einem Sonntage geboren und hätte sonach die Eisjungfrau ganz gut erlösen können, denn auch seine Mutter hatte schon immer gemeint, er sei deshalb mit einem ganz besonderen Verstande begabt, aber sein Gewissen! Alle seine kleinen und großen Sünden fielen ihm ein. O, er wollte ganz gewiß von nun an recht brav sein, wenn er nur diesmal glücklich wieder herauskäme.

Der Mond war inzwischen aufgegangen, und wenn sein silbernes Licht des Nebels wegen auch nicht voll zur Geltung kam, erhellte es die Gegend doch etwas, so daß Bruno den ganzen Grund übersehen konnte. Etwas Verdächtiges war eigentlich nirgends zu entdecken. Das ganze Tal war mit Schnee bedeckt und oben ragte gespenstisch grau der Nonnenfelsen mitten heraus. Zaghaft ging er einige Schritte und siehe da, es zeigte sich nichts! Er ging weiter und weiter und hatte nach kurzer Zeit den Nonnenfelsen glücklich erreicht. Aufatmend stand er oben, da fing unten in Mariaglück ein Glöcklein an zu läuten, das die katholischen Gläubigen um Mitternacht zur Mette rief. Bruno bekreuzigte sich. Jetzt mußte das Kräutlein zu finden sein! Er sah sich nach allen Seiten um. Rings auf dem ganzen Felsen, sowie unten im Grunde gab es nichts als Schnee. Doch halt! Stand da nicht ihm gegenüber am Rande des Felsens ein dunkles Etwas? Es sah beinahe aus wie eine Fichte. Sollte das das Kräutlein sein? „Wenn sie länger dastünde, müßte sie weiß aussehen wie alle die übrigen unten im Walde“, überlegte er. Es mußte also doch sein Kräutlein sein! Da wollte er sich nur schnell einen Zweig abbrechen und dann wieder nach Hause eilen. Jedoch was war das? Kaum hatte er einige Schritte vorwärts getan, kam ihm das Bäumchen recht seltsam vor, es war, als habe dasselbe Augen, und diese Augen seien scharf auf ihn gerichtet, und als er genauer hinsah, bemerkte er, daß das gar keine Fichte, sondern eine dicke rundliche Gestalt mit dunklen Augen war. Die Eisjungfrau! Vor Schreck blieb er einen Augenblick wie gelähmt stehen. Da fing die unheimliche Gestalt an, sich zu bewegen. Das brachte ihn zur Besinnung. So schnell ihn seine Beine tragen konnten, ergriff er die Flucht.

„Nur nicht wieder durch den Schönjungferngrund!“ sagte er sich, „da bist Du verloren“, und wollte nach der Hochebene, die vom Felsen aus über den Gebirgskamm führte, entfliehen. Doch die Jungfrau wußte ihm geschickt den Weg zu vertreten. Entsetzt wich er wieder zurück und rannte auf dem Felsen hin und her, die Jungfrau immer hinter ihn drein. Da, auf einmal wurde ihm schwindelig, er hatte am Rande des Felsens einen Fehltritt getan und stürzte kopfüber hinunter in den tiefen Schnee.

Die Eisjungfrau stieß einen lauten, gellenden Schrei aus, den hörte er noch, dann umgab ihn finstere Nacht. „Jetzt holt sie Dich“, war sein letzter Gedanke gewesen, dann dachte er eine Zeitlang überhaupt nichts mehr, bis er sich auf einmal gehoben fühlte und fortschwebte an der Seite der Eisjungfrau, die ihn bei der Hand gefaßt hatte.

Nach einiger Zeit standen sie am Tor des unterirdischen Schlosses, welches ein baumlanger Pförtner mit einem riesigen Schlüssel schon aufgeschlossen hatte. Dieser streckte ihm freundlich die Hand entgegen, als wolle er ihm über die Schwelle helfen, und sagte: „Gomm nur herein, Du bist hier herzlich willgommen!“ Er aber versteckte seine freie Rechte und machte einen großen Bogen um denselben, denn der sprach gerade wie der Friedrich vom Bäckengute.

Und sie schwebten weiter durch einen dunklen Raum. Nach und nach wurde es aber wieder heller, und nun wagte er auch, einmal einen Blick nach der Seite zu werfen. Die Eisjungfrau trug jetzt ein weißes, silberdurchwebtes Kleid, das glitzerte und funkelte, daß er sich geblendet abwenden mußte. Aber sie hatte ihn so liebevoll lächelnd angesehen, daß er sich unter ihrer Führung recht wohlgeborgen fühlte und seine Hand nur noch fester in die ihre legte.

Je weiter sie kamen, desto heller wurde es. Bald hörten sie Orgeltöne, und die wurden lauter und lauter, dann hörte er deutlich einen vielstimmigen Gesang: „Stille Nacht, heilige Nacht“, und als der Gesang zu Ende war, schwebten vor ihnen und hinter ihnen her Tausende von Engeln, und jeder trug ein brennendes Licht in der Hand. Dann läuteten die Glocken, da verstummten die Orgeltöne, und die Engel blieben nach und nach zurück. Mit der Zeit wurde auch das Läuten leiser und entfernter, und die Jungfrau schwebte mit ihm wieder ins Dunkel hinein.

Zuletzt kamen sie in einen engen Raum, in dem es wieder etwas heller und auch warm war. Weihrauchdüfte wehten ihnen entgegen und bald unterschied er auch den Geruch von würzigen Weihnachtsstollen und Pfefferkuchen, vermischt mit Apfel- und harzigem Tannenduft, am deutlichsten aber den einer Tabakspfeife. Es kam ihm so anheimelnd vor, und er war es sehr zufrieden, daß die Eisjungfrau jetzt mit ihm stehen blieb. Sie schlang die Arme um seinen Hals und flüsterte ihm schluchzend ins Ohr: „Iech wills ganz gewieß net wieder tue, mach när a aanziges Mol de Aangn auf!“

Ja, hatte er denn die Augen zu? Er riß energisch an den Lidern und sah der Eisjungfrau direkt in das besorgt über ihn gebeugte Antlitz. Merkwürdig, sie trug genau die Gesichtszüge seiner Frieda! Und sie sprach so zärtlich mit ihm, daß sie immer nur ihn lieb gehabt habe und stets nur ihn lieben werde, und er solle jetzt nur ja nicht sterben.

Wozu brauchte er denn zu sterben?

„Iech will doch immer bei Dir bleib’n, versicherte er, indem er den Kopf der Eisjungfrau ganz nahe an sich heranzog und ihr einen Kuß auf die frischen roten Lippen drücken wollte. Da ging eine Tür auf, und eine ihm wohlbekannte Stimme sagte: „Da bringe ich e Gopfgissen, und hernach will ich gleich Schnee reinholen, damit reiben wir ihn ab, dann wird er schon wieder uf de Beene gommen.“

Was war das, war ihm der Pförtner hierhergefolgt? Er wandte seine Augen nach der Richtung, von welcher die Stimme gekommen war. Mit einem Ruck stand er auf seinen Füßen. Das war ja der lange Friedrich, der mit seinem Kopfkissen unter dem Arme auf ihn zukam.

„Geleich machste, daß De naus kimmst, Du hast do nischt ze suchen!“ schrie er den Verhaßten an und wollte sich auf ihn stürzen, doch die Eisjungfrau hielt ihn am Arme zurück.

„Wos willste De dä, dar maants doch bluß gut mit Dir“, beschwichtigte sie; „wenn mir der Friedrich net geholfen hätt‘, lägst Du itze noch draußen in’n Schnee.“

„Dos gieht net mit rachten Dinge zu“, war das erste, was er herausbrachte, „iech war doch in Wald gange, un itze bie iech wiedr drham.

Frieda lachte. „Iech will Dir’sch derzehln, wie’s zugange is, obr De mußt aa still zuhär’n. Wie De mit mir bies warscht un gar net wieder kamst, hob iech mich gekränkt un hob eitel geheilt, un do kam amol de alte Mattischen derzu, die freget geleich, was mir fehlet, un weil die geg’n äll’s a Mittel waß, derzehlet iech ihr men Kummer. Do maanet se, se wüßt, wos mir halfen wür: iech soll miech när in der heiling Nacht uf’n Nonnenfelsen eifinden, dort wür iech a Kreitl finden, dos mir sicher Heiling vu men Kummer brächt.“

„Dos hot se zu mir aa gesogt“, meine Bruno treuherzig.

„Un do war’n mr älle bäde uf’n Nonnenfelsen“, fuhr Frieda, mühsam ein Lachen unterdrückend, fort, „und Du hast miech net gekannt.“

„Do hast Du also Eisgumpfer gespielt?“

„Ihnu freilich, un wie Du runnergefallen warscht, war iech tüchtig derschrocken, un weil De net wieder zu Dir kamst, rannt iech fort, im Hilfe ze hul’n, un do kam mir aa geleich dr Friedrich entgeg’n, wie iech im de Waldeck bieng’n will, dar ging geleich miet un hot aus Reißig a Baahr gemacht, un do drauf hob’n mr Diech aham getrog’n. Weil mir ober hier in’n Dorf ka Aufsehn machen wollten, sei mir de böhmische Seit‘ gange. Doch de wärscht derfrurn sei, trink när erscht a Schalle warm‘ Kaffee, de Rösel hot’n derweile gekocht. ’s hot doch älleweile gedauert, eh de Bahr fertig war. Wie De runner gefallen warscht, hatt’s ab’n zwälfe geschlogn, un wie mir in Mariaglück bei der Kerch vorbeigienge, war de Metten schu wieder aus.“

„Un iech hob gedacht, de Engel flieng’n im uns rim, do warn dos de Leit, die aus der Kerch kame“, meinte Bruno verständnisvoll und trank seine Tasse Kaffee aus. Nach einer Weile behauptete er aber doch wieder: „’s gieht net älls mit rachten Ding’n zu, wie iech fort gieng, stand a langer Maa an’n Wassertrug.“

Von der Ofenbank her, auf der Friedrich fest umschlungen mit Rösel saß, ertönte ein schallendes Gelächter.

„Gomme her, Bruderherz, wir wollen gute Freinde sein“, sagte Friedrich, als er sich etwas besänftigt hatte, „ich wollte doch nur der Rösel meinen Heiligen Geist bringen.“

Bruno legte seine Hand zögernd in die seines Todfeindes, ihm war vor Staunen der Mund offen stehen geblieben. Endlich ging es aber doch wie eine Erleichterung über sein Gesicht.

„Meitholb’n“, meinte er, „mog alls mit rachten Ding’n zugiehe, de Eisgumpfer hob iech doch derlöst“ und gab Frieda den ersten Versöhnungskuß.

Erzgebirgische Heimatblätter Nr. 2 – Sonntag, den 8. Januar 1928, S. 2 – 3.