Die Auferstehungslinde zu Annaberg.

Wohl viele unserer Erzgebirgler führt der Lauf des Jahres oft nach Annaberg. Da ist die Zeit zum Erledigen der Geschäfte sicher meist zu kurz, aber manchmal bleibt doch viele Zeit, bis die Bahn oder das Staatsauto abfährt. Wo soll man die Zeit zubringen? Ich rate dir, gehe einmal am Gasthause vorbei zum Gottesacker. Dort steht die riesige uralte Auferstehungslinde. Sie ist in unserm ganzen Vaterland bekannt und berühmt. Du aber wohnst gar nicht so weit davon und hast sie kaum gesehen und ihre Geschichte halb vergessen. Darum halte einmal bei ihr stille Einkehr und merke dir ihre Geschichte:

Gegen Ende des 15. Jahrhunderts lebte in Annaberg ein junger Mann, ein Sohn des Marstallpächters, der seinen Eltern durch Leichtsinn und Unglaube bitteren Kummer und Herzeleid bereitete. Alle Ermahnungen blieben fruchtlos weder liebende Worte, noch ernste Strafen machten auf den Jüngling irgendwelchen Eindruck. Das Schlimmste war, daß er bei jedem Hinweis auf eine dermaleinstige Verantwortung seiner Handlungen vor dem Richterstuhle Gottes mit Hohn und Spott antwortete und behauptete, ein zukünftiges Leben sei nur ein Phantasiegebilde der Menschen, mit diesem Leben sei eben alles aus. Der Pfarrer des Ortes, dem die Eltern ihre Not klagten, gab sich alle Mühe, auf den Sohn einzuwirken und ihn zur Erkenntnis zu führen. Aber vergebliche Mühe! Der ungläubige Bursche wies auf eine junge Linde des Friedhofs und sagte lachend: „So wenig als dieses Bäumlein, wollte man es ausreißen und verkehrt mit den Aesten in die Erdeb pflanzen, wachsen und gedeihen würde, ebensowenig werden die Toten leben.“ Da ergriff den Pfarrer heilige Begeisterung, er zog das Bäumlein heraus und grub es, die Wurzeln nach oben gekehrt, mit den Zweigen in die Erde. Und welch‘ Wunder, das Bäumlein gedieh und wuchs zu einer Riesenlinde heran und hält noch heute mit seinen weitverbreiteten Aesten und Zweigen allen Besuchern des Kirchhofs eine lebendige Auferstehungspredigt. Bei genauer, näherer Betrachtung dieses Lindenbaumes bleibt kein Zweifel, daß er auf obenberichtete Weise gepflanzt wurde. Der Stamm hat einen Umfang von acht Meter, und eine Höhe von zwei Meter; darüber erstrecken sich die ehemaligen Saugwurzeln, sechzehn an der Zahl, als etwa acht Meter lange Aeste, wie ein flachliegendes Dach, das jetzt bereits von elf steinernen und acht hölzernen Säulen gestützt wird. Von der Mitte dieser Baumkrone aus erstreckt sich die sogenannte Pfahlwurzel als Fortsetzung des Stammes in einer Höhe von über 30 Meter mit weitverzweigten Aesten. So steht noch heute dieser mächtige Wunderbaum auf dem Gottesacker zu Annaberg und breitet seinen Schatten über die stillfriedlichen Wohnungen der Entschlafenen aus, gleichsam als wollte das leise Säuseln der Blätter Kunde geben von einem Wunder unzerstörbaren Lebens.

Erzgebirgische Heimatblätter Nr. 27 – Sonntag, den 4. Juli 1926, S. 3