Der Tag eines Schneeläufers.

Von Dr. Erwin Jaeger.

(Aus „Mitteldeutsche Monatshefte”.)

Wenn die ersten Sonnenstrahlen beginnen Licht zu verbreiten, verläßt der Schneeläufer sein Quartier. Nur selten ist es ihm beschieden, die Landschaft in klarer, nebelfreier Luft zu schauen. Meist lagern, zum mindesten in den Talgründen, bleigraue Dunstschichten über dem Gelände. Hier und da ragt ein Bergrücken über den Nebel hinaus, manchmal blickt auch die Spitze eines Kirch- oder Schloßturmes neugierig aus ihm empor, vergoldet vom Glanz der aufgehenden Sonne. Einem erstarrten Meere gleich mit Wellenbergen und Wellentälern erscheinen die Nebelschwaden. Schweigen herrscht in der Natur, nicht Beängstigung hervorrufend, sondern Ehrfurcht gebietend.

Auf dem Kamm des Sächsischen Erzgebirges.
Photo Helios

In das endlose Schneefeld zieht der Läufer, mit seinen Skiern leise knirschend, eng nebeneinanderliegende Furchen, dadurch in das scheinbar Unendliche eine meßbare Größe bringend: Die Spur weist auf einen Anfang zurück und infolge ihrer Gradlinigkeit gleichzeitig zielstrebig vorwärts. Der Schneeläufer hinterläßt ein Zeugnis von seiner Anwesenheit in der Natur, das ihn, so oft er rückwärts schaut, befriedigt weitergleiten heißt. Wie plump macht sich im Vergleich zur Skispur die des zu Fuße im Schnee wandernden oder, besser gesagt, stampfenden Menschen. Ist es nicht, als wollten die Fußspuren des im Schnee Watenden durch ihr unharmonisches und unschönes Bild bekunden, daß der Mensch nicht hierher gehöre, während die formvollendete Skispur das Heimatrecht des Schneeläufers zu bezeugen scheint! Um dieses Gefühl zu verstehen, vergleiche man mit menschlichen Fußspuren die Spuren des Wildes. Das einzige, was dem Skiläufer nämlich bei seinem Vorwärtsschreiten in die Tiefen des Waldes Zeugnis davon gibt, daß hier oben trotz der Herrschaft des Winters doch nicht alles Leben erstorben ist, sind die Spuren des Wildes: der Hasen, Rehe, Füchse. Wie gleichmäßig haben sich ihre Abdrücke dem Schnee mitgeteilt, wie eigenartig charakteristisch für jede Art! Da ihr Gang den Schneeverhältnissen angepaßt ist, so verletzen sie die Schneedecke nicht unschön, ihre Spuren wirken vielmehr harmonisch. Vom Wilde selbst ist zwar selten etwas zu sehen; das zunehmende Tageslicht scheucht es in seine Verstecke; ist es doch zur Zeit des Schnees offenbar besonders auf seiner Hut! So fehlt es dem Schneeläufer, der nicht nur Wege und Schneisen aufsucht, sondern sich auch in den Waldbestand hineinwagt, dorthin, wohin eines Menschen Fuß ohne die Hilfe von Schneeschuhen während langer Wintermonate für gewöhnlich nicht eindringen kann, nicht an Anregung zu gedankenreicher Beschäftigung. Inzwischen ist die Sonne höher gestiegen, mit der zunehmenden Erwärmung steigt auch der Nebel in die Höhe, für kurze Zeit ist die Landschaft ringsum ganz in Grau getaucht, jeder Ausblick unmöglich. Kompaß, Karte und unter Umständen auch das Barometer werden eifrig benutzt. Doch auf den Skiern gibt es kein Bangen. Denn die in den Schnee gezeichnete Spur würde bei etwaigem Verirren immer wieder zurück zum Ausgangspunkt führen. Niemals, auch beim schlimmsten Unwetter nicht, verläßt den Schneeläufer das Gefühl, daß er nie ein Spiel des Unwetters werden kann, solange er die geliebten Bretter unter den Füßen hat. Auch jetzt ist die Landschaft nicht reizlos. Im Verein mit der Schattenwirkung der Sonne, die für Augenblicke wie ein gespenstiger Koloß sichtbar wird, zaubern Licht und Nebel alle Farben vom Grau bis zum Violett auf den Schnee. Doch der Nebel steigt. Er wird schon hin und wieder weniger dicht und läßt dann Ausblicke in das Tal zu. Am Spätvormittag bei weiter zunehmender Erwärmung verschwindet er ganz: Der Sieg der Sonne über ihre Widersacher, das täglich wiederkehrende Sinnbild: der Sieg des Guten über das Böse. Dann ist der Augenblick gekommen, wo jeder Bergsteiger das ungetrübte Glück des Alleinseins und der Einsamkeit in herrlicher Natur genießt, während die Schneelandschaft zu seinen Füßen durch ein räumlich begrenztes und darum großartiges Ansehen gewinnt.

Oberwiesenthal.
Photo Kurt Langer, Annaberg.

Der Schneeläufer quert jetzt im bescheiten Tannenwald, dessen Glanz und Wechsel an wunderbaren Schneegestalten seine Sinne gefangenhält, eine Schneise. Gugelnde Töne mahnen ihn, daß ein Bach seinen Weg kreuzt, von Eis und Schnee sorgsam verdeckt. Dem verleiht der Berg das Leben. Die Neigung des Geländes gibt ihm die Kraft zum eilenden Lauf ins Tal, das reichlich hier oben gespendete Wasser gibt den Stoff. Warum eilt der Mensch dem Bach entgegen, hinauf in die Berge und später wieder mit ihm abwärts in sein Tal zurück? Holt er sich auch dort oben Kraft und Stoff? Es ist eine bekannte Tatsache, daß die Bevölkerung der großen Städte, die zum Teil den nachteiligen Einflüssen des städtischen Lebens nicht gewachsen ist und ihnen darum erliegt, sich mit besonderem Vorteile aus der Bevölkerung der Mittelgebirge ergänzt, die sich infolge ihrer natürgemäßeren Lebensart als besonders widerstandsfähig erwiesen hat. Und der Ruf ins Gebirge, der jährlich zur Sommerszeit die großen Städte bewegt, hat sich immer noch als wirksamer erwiesen denn der andere an die Niederung der See. So strömt also auch auf diesem Wege gleich dem Bach neue Kraft dem Tiefland aus den Bergen zu. Der Schneeläufer stört die keusche Bachdecke nicht, obwohl er Wasser zum Mittagessen braucht. Er schmilzt Schnee in seinem Kochapparat, den er im Rucksack mitgenommen. So herrlich schmeckt es selten, wie zur Winterszeit draußen im Wald nach einem Herz und Gemüt erfrischenden Marsch, besonders, wenn man sich sein Mahl selbst bereitet hat.

Da die Wintertage kurz sind und nach Eintritt der Dunkelheit noch überreichlich Zeit zur Ruhe ist, so hält sich der Schneeläufer nicht unnötig lange auf. Doch schenkt er sich jetzt, nach dem Mittagessen, größere Anstrengungen. Er meidet daher die Höhe und sucht Talgründe auf, zu denen ihn Abfahrten auf Waldwegen und unter Vermeidung der Straßen in kurzer Zeit bringen, Abfahrten über schneebedeckte Wiesenhänge und Felder hinweg. Ein beseligendes Gefühl durchzieht seine Brust während dieser Abfahrten: einmal ist es ihm, als mache er sich frei von den beengenden Fesseln dieser Welt, als streife der Mensch alles Körperliche ab, das Innere, die Seele, dagegen genießt in vollen Zügen; dann aber wieder wird er durch die Unebenheiten in der Schneebedeckung des Bodens und durch den emporwirbelnden Schnee daran erinnert, daß der Körper unablässig arbeiten muß, um in Fahrt zu bleiben, und nicht etwa durch einen Sturz den Genuß zu kürzen oder unnötig zu unterbrechen. Das alles geschieht aber seitens des erfahrenen Schneeläufers so unbewußt, daß ihm von diesen Bemühungen meist nur das eine schöne Gefühl bleibt, Schwierigkeiten erfolgreich überwunden, als Sieger die Schönheiten der herrlichen Landschaft erobert zu haben!

Auch die Abfahrten haben ihr natürliches Ende. Der Schneeläufer ist in bewohnten Gegenden angelangt. In der Nähe eines Dorfes tummeln sich Kinder ebenfalls mit ihren Brettern. Ihnen ist das Gefühl für die Großartigkeit der sie umgebenden Natur noch nicht aufgegangen; sie bleiben daher im Umkreis ihres Wohnortes und folgen bei ihren Übungen nur ihrem Bewegungsbedürfnis. Ein Glück ist es zu nennen, daß nun auch für sie durch die Skiübungen und das Rodeln, das sie fast noch lieber betreiben, während des Winters der Stubenarrest ein Ende erreicht hat. Gesundheit und Frohsinn sind das Ergebnis solch vergnügten Treibens.

Der Schneeläufer trennt sich auch von diesem anziehenden Bilde. Die Sonne neigt sich dem Horizonte zu. Er will wieder bergauf. Dort oben bleibt es länger Tag. Je rüstiger er daher bergan schreitet, um so mehr verlängert er für sich den Tag, gleichwie vernünftig betriebene Arbeit das Leben verlängert.  Frohen Mutes nimmt er daher den Kampf mit der Finsternis auf, die allmählich die Talgründe erfüllt und stetig ihre Arme auch hinauf zu den Höhen streckt; er versucht, das Licht am Entrinnen zu hindern. Eine Zeitlang scheint es, als bliebe er Sieger. Aber schließlich ermatten doch seine Skischritte, das Dunkel der Nacht hat auch ihn erreicht, doch schadet es nichts. Der Wettkampf hat ihn dem Gipfel des Berges bereits nahe gebracht. Der Baumbestand wird hier oben wieder lichter, die Bäume niedriger, sie zeigen an ihrem Geäst deutlich die Arbeit des Windes, der hier ungehemmt schaltet. Aber wie trefflich hat der Winter im übrigen für sie gesorgt! Er hat die Stämme der Höhe weit tiefer in den Schnee eingebettet als im Tale, so daß sie auch den ärgsten Stürmen trotzen können.

Der Schneeläufer gönnt den Bäumchen und Sträuchern von Herzen ihren Winterschlaf und richtet seine Schritte nach dem nahe gelegenen Bergwirtshaus. Wenn ihn auch am Tage manchmal das stolze Kraftgefühl des „Uebermenschen“ erfüllte, der Abend bringt ihm das Ruhebedürfnis und erinnert damit recht lebhaft an das Allzumenschliche. Er beugt sich dem zwange gern, nachdem er in den verflossenen Stunden so überreichlich genießen durfte, und bekennt ohne Wehmut: Des Menschen Macht sind enge Grenzen gezogen.

Erzgebirgische Heimatblätter Nr. 5 – Sonntag, den 30. Januar 1927, S. 1