Der Name „Scheibenberg” in volkskundlicher Deutung.

Guido Wolf Günther.

Immer hat es mich gegrämt als Schulbuben, daß andere Orte so schön ihre Namen ableiten konnten und sogar stockfleckige, uralte Schriftstücke dafür hatten zum Beweis, während wir „Hübelberger” nur auf Vermutungen angewiesen sind. Und wenn ich, wie in diesen Tagen, in alten Folianten auf Namensgleichheiten mit dem Heimatstädtel stoße, dann kann ich gar nicht anders: die Seele kommt ins Träumen und sucht Brücken zu schlagen zwischen der Heimat und dem fremden Gau und sucht Möglichkeiten, dem Heimatnamen einen gehaltvollen Sinn zu geben. –

Scheibenberg im Jahre 1841

Was so an Namensdeutungen „spukt“, befriedigt noch nicht recht; womit ich aber durchaus nicht behaupten will, meine heute gebrachten Lösungsversuche seien Kolumbus-Eier, die Männlein und Weiblein als höchste Weisheit widerspruchslos zu verdauen hätten! Den Namen „Scheibenberg“ mit Scheibe in Verbindung zu bringen in der Weise, daß etwa die Form des Berges oder das Siedlungsbild von Oberscheibe der Kreisfläche nahekommt, wird jeder Scheibenberger ablehnen; denn wer als Junge beim „Räuber- und Schützen“-Spiel auf unserem guten, alten Berg die Richtung verloren hatte und bergauf, bergab bald „Böcke stürzte“, dem ist von einer glatten Scheibe verteufelt wenig aufgefallen, nicht? Oder wer beim „Millichhul’n“ mit den Scheibner Jungens Keilerei bekam, wird mir bestätigen, daß vom glatten, kreisrunden Dorf wenig zu spüren war, wenn man z. B. das „Fiedlerbergel“ hineinsauste und ganz außer Atem drüben zum Schramm- oder Uhlmanngut hinaufstieg, – also mit der Scheibe in diesem Sinne ist nicht viel anzufangen.

Dann wird an „Schiefer“ gedacht, weil Schiefer, schieben und Scheibe sprachlich miteinander verwandt sind. Wer als kreuzfideler Spaziergänger den „Genuß“ hatte, einmal aus allernächster Nähe den Steinhagel zu beobachten, der beim Schießen im Bruch ab und zu auch mal die Straßen mit liebkost, der wird wissen, daß Basaltbrocken nicht mit den Schieferplatten zu vergleichen sind, die wir mit so viel Geschick einst dem guten Zier-Schieferdecker gemaust haben, um Pferdeställe draus zu bauen. Nein, mit dem Schiefer dürfte unser Berg auch kaum etwas zu tun haben. –

Wie steht es dann weiter mit der Deutung, daß die ersten Siedler vom „Grunde“ herauf den ganzen Hausrat und den ersten Mundbedarf auf Schiebekarren herangeführt hätten, und da im süddeutschen Sprachgebrauch für schieben auch „scheiben“ gesagt wird, hätte sich der Name Untere und Obere Scheibe (Schiebe) gebildet? Der neue Ort aber hätte dann den Namen „Scheibe am Berg“ bekommen. Meines Erachtens ist kaum festzustellen, ob die Besiedlung Scheibenbergs ausschließlich von den beiden Scheibner Dörfern aus erfolgte; weiter sind auch die Siedlungsnachrichten, wie ich in diesen Blättern schon früher ausführte, so dürftig, daß wir noch sehr im Dunkel tappen über die Stammeszugehörigkeit der wirklich ersten Siedler, die der Heimat Namen gegeben haben.

Dennoch kann uns dieser Hinweis auf süddeutsche Sprachformen vielleicht greifbarere Ergebnisse bringen und die von mir angedeuteten volkskundlichen Aufschlüsse, die mir bei Gelegenheit anderer Studien nebenbei mit wurden, sind stark beweiskräftig.

Setzen wir zwei deutsche Siedlungszeiten voraus für unsere Heimat, ohne der wendisch-sorbischen Besiedlung zu gedenken, die hier für unseren zweck keine Bedeutung hat, so ergibt sich eine erste Bevölkerung durch die fränkischen Bauernsiedler unter den deutschen Königen und eine zweite Besiedlungswelle anläßlich des Erzbergbaues. Beide Siedlergruppen sind bestimmt nicht reinstämmig gewesen in dem Sinne, daß etwa nur fränkische Bauern und nur Harzer Bergleute die erzgebirgische Bevölkerung gebildet hätten. Vielmehr ist wohl anzunehmen, daß die Lockung, eigenen Grund und Boden bezw. Silberschätze sein eigen nennen zu können, in allen deutschen Gauen gewirkt hat. In der Uttmannschen Familie sehen wir ja ein Beispiel von vielen: Heinrich von Elterlein ist geborener Nürnberger, sein Schwiegersohn Christoph Uttmann stammt aus Schlesien; beide führte der Silberruf des Erzgebirges aus Ost und West zusammen. Und was bei den Bergherren üblich war, geschah bei den Bergleuten ebenso: in alten Lohnurkunden finden wir Namen süddeutscher und norddeutscher Herkunft bunt durcheinander. – Ob von den Bauernsiedlern oder von den süddeutschen Bergleuten eingebürgert: wir sehen im erzgebirgischen Volksbrauch und -aberglauben starke Beweise dafür, daß die süddeutsche Volksart uns eng verwandt ist. Sollte da nicht auch erlaubt sein, der folgenden Sitte besondere Beachtung zu schenken, weil sie uns vielleicht zur Wurzel unseres Heimatnamens „Scheibenberg“ führen kann?

In den katholischen Gegenden unseres Vaterlandes wird der Sonntag Invocavit als letzter Tag der Fastnacht gefeiert und wohl auch „Allermannsfasching“ genannt. Mit seiner Feier wird von altersher die Austreibung des Winters verbunden, und in einem großen Freudenfeuer wird der Winter in Gestalt einer Strohpuppe verbrannt. Wohl auch um das wieder zunehmende Feuer der Sonnenscheibe anzudeuten, umwanden die Eifelbewohner Räder mit Stroh und ließen sie brennend aus dem Invocavit-Feuer heraus die Berge hinabrollen, den Fluren damit Segen zu bringen. Dieses Radscheiben ist seltener geworden in der Eifel, aber in Bayern, Schwaben und in der deutschen Schweiz ist das Scheibentreiben noch sehr gebräuchlich, und der Sonntag Invocavit heißt geradezu „Scheibensonntag“. Mit guten Wünschen für die Herzallerliebste entweder, oder mit Segenssprüchen für Feld und Flur läßt der Süddeutsche die brennenden Scheiben zu Tal rollen, und wessen Feuerrad am längsten läuft, dessen Glück und Leben währt am längsten! Alte, heidnische Sitten vereinen sich beim Scheibenschlagen mit christlichen Bräuchen und führen schließlich auch dazu, daß evangelische Bevölkerungsteile den eigenartigen Brauch annahmen. – Freilich war nicht jeder Berg geeignet zum Scheibenschlagen, sodaß die „Scheibenberge“ weitum bekannt wurden. Und da wir seit 1090 urkundliche Nachricht von der Sitte des Scheibentreibens haben, brauchen wir uns nicht zu wundern, daß z.B. in Baden, im Elsaß usw. eine Anzahl „Scheibenberge“, „Scheibenbücke“ und „Scheibengassen“ (vgl. auch die „Scheibenstraße“ in Baden-Baden!) lange bekannt sind.

Ist es da zu kühn, behaupten zu wollen, daß unser damals großenteils kahler „Hübel“ den eingewanderten Siedlern und Bergleuten aus Süddeutschland geradezu verlockend erscheinen mußte, zu Sonnenwendfeiern und Scheibensonntagen benützt zu werden? Gab es einen schöneren „Scheibenberg“, die Feuerräder ins Tal sausen zu lassen? War es nicht möglich, daß die Siedlung, die an dem Orte entstand, wo die fahrtmüden Scheiben umkippten und verbrannten, nach ihnen „Scheibe“ genannt wurde? Daß eine spätere Schreibung erst Ober- und Unterscheibe unterschied? So gut das benachbarte Bärenstein den Ortsnamen vom Berge übernahm, so kann unser Städtel ohne den Umweg über „Scheibe am Berg“ seinen Namen vom Berge selbst bekommen haben. –

Namensdeutungen können immer nur Versuche bleiben, denn allzuviel Zufälle drängen sich hinein in die Ortsgeschichte. Aber mir scheint nach der sonstigen starken Verquickung süddeutschen Wesens mit unserer erzgebirgischen Eigenart nicht ausgeschlossen, daß die Deutung „Scheibenberg“ aus den angegebenen volkskundlichen Wurzeln heraus zu halten ist. Vielleicht trägt noch der oder jener Heimatkundler Bausteine zur Lösung herbei? –

Erzgebirgische Heimatblätter Nr. 4 – Sonntag, den 23. Januar 1927, S. 1