Der Leierkastenmann.

von Erich Guertler.

Jubelnd stürmte die Schuljugend auf dem Gäßchen einer Kleinstadt entlang: „ein Leierkastenmann!” Ihre Wangen überhauchte die Röte der Freude und ihre Augen blitzten. Vor dem Brunnen, am Marktplatz, hatte sich der Alte mit seiner Leier aufgestellt. Ein langer, weißer Bart umrahmte sein wetterhartes, runzeliges Gesicht. Sein rechter Arm drehte, der Linke war amputiert. Die Leier verstimmt, ließ nur drei Liedlein hören: „Köln am Rhein du lust’ges Städtchen”, „Zu Straßburg auf der Schanz” und „Zwei dunkle Augen” … Der Jugend gefielen sie. Immer wieder mußte der Alte die Leier drehen. Dankend steckte er die kleinen Münzen ein, die ihm gereicht wurden. Seine verwitterten Züge überflutete müder Abendsonnenschein …

Von Gäßchen zu Gäßchen spielte der Alte, bis er schweren Schrittes, am Ende des Städtchens, im Lindenhof, ermattet von der Tages Wanderung, Einkehr hielt …

Die Schuljugend war heimgegangen. Es stellten sich die Burschen mit ihren Mädchen ein und es klang wieder in Disharmonien aus der verstimmten Leier: „Köln am Rhein, du lust’ges Städtchen …” Ein paar Sekunden setzte die Melodie aus. – Der Alte drehte weiter. Die Anwesenden lachten. Der Leierkastenmann ließ sich nicht beirren. Er kannte seine alte Leier, seine treue Begleiterin seit mehreren Jahrzehnten. Er wußte, sie läßt ihn nicht im Stich. Lauter scherzten die Burschen und Mädchen über das Verstummen der Musik. Der Alte lachte mit ihnen. Dann fühlte er beim Drehen, wie die Stimmen wieder einsetzten: „es wird, es wird” rief er der lustigen Jugend zu, es tönte in den Abend: „Zwei dunkle Augen…” Nach wenigen Takten drehten sich die Paare im Kreise, auf der Wiese unter der Linde, im Lindenhof. Sie nickte zufrieden mit ihren Zweigen und Blättern. In ihrem Flüstern tuschelten die Burschen und Mädchen geheimnisvoll bei ihrem Tanze. Der alte Leierkastenmann sah träumend zu. Er gedachte vergangener längst verklungener schöner Zeit …

Das junge Volk hatte sich müde getanzt und trat liebesheiß den Heimweg an. Auch der Alte wanderte weiter. „Köln am Rhein, du lust’ges Städtchen” tönte es von ferne. Burschen und Mädchen winkten dem Leierkastenmann nach bis er ihren Blicken entschwand. Sein Weg führte nach Westen. Der Himmel war blutrot von der untergehenden Sonne. Auf der Landstraße ruhte der Greis noch einmal aus. Er nahm seine Leier und spielte der Wegeinsamkeit und Abendstille: „Zu Straßburg auf der Schanz …” Die Schatten der Nacht stiegen auf. Trauernd umgaukelten sie den Traum des Alten Sehnsucht war in seinem müdem Herzen … Heimweh … Der Himmel zündete die Kerzen an. Die Sternlein flackerten und winkten – die Leier blieb still …

 Erzgebirgische Heimatblätter Nr. 20 – Sonntag, den 13. Mai 1928, S. 3