Der erzgebirgische Kirchenbau.

Die Grundrisse der erzgebirgischen Kirchen verraten eine gemeinsame Kunstanschauung. Die zu Annaberg besteht aus drei schiffen, von welchen das mittlere nur wenig breiter ist als die äußeren. Gegen Osten sind drei aus dem Achteck gebildete Chorbauten angeordnet. Der Bau bildet im übrigen ein Rechteck, welches etwa doppelt so lang als breit ist.

Die Kirche zu Pirna entspricht der Annaberger fast völlig. In dieser Planbildung sehen wir die ältere schule jener Gegend; denn die Pirnaer Kirche entstand seit 1504. Ihr Meister dürfte jener Peter von Pirna sein, von dem wir wissen, daß er vor Jacob von Schweinfurt in Annaberg baute.

Diese Grundrißform war keine neue. Ihre Wahl war vielleicht durch Jerusalem beeinflußt; dort stand die Abtei St. Anna, die im 12. Jahrhundert von den Kreuzfahrern über der Gruft der Großmutter Christi errichtet worden war. Auch sie zeigt jene Form und war eine jener Heilstätten, die damals kein Wallfahrer unberührt ließ. Schwerlich ist aber die Annenkirche in Jerusalem allein maßgebend gewesen. Das Vorbild der Teynkirche zu Prag und verwandter Bauten wirkte jedenfalls mit. Das dortige Chor findet sich schon 1388 an der Moritzkirche zu Halle wiederholt.

Aber zwischen allen diesen Bauten und dem Annaberger besteht ein sehr einschneidender Unterschied. Dort sind die Umfassungsmauern zwischen die inneren Endungen der Strebepfeiler gestellt, so daß diese nach außen die Wandfläche gliedern; hier ist die Außenwand völlig glatt gebildet, sind die Streben ganz nach innen gezogen. Ursprünglich war die Hallenkirche geplant. Die folgenden Meister gingen erst zur Emporenkirche über, wie in der Wolfgangskirche zu Schneeberg und der Kirche zu Laun. Der Emporenumgang über den eingebauten Kapellen erstreckte sich in Brüx nun auch über das Chor. Die reiche, bildnerische Ausschmückung der Emporenbrüstungen, die feine Gliederung der Pfeiler, die die Decke zu einem Ganzen zusammenfassende Bildung der sich durchdringenden Kurvenrippen, die Stellung der Kanzel – alles dies gibt solchen Kirchen im hohen Grade den Eindruck des Saalartigen, des Gemeindebaues, der Predigtkirche, soweit dies bei gotischen Formen überhaupt erreichbar ist. Ähnlich ist die Schneeberger Kirche gestaltet. Schon hielt man hier nicht mehr für nötig, dem Mittelschiffe einen chorartigen Abschluß zu geben. Der Altar steht frei vor der ringsumlaufenden, den Eindruck des Raumes künstlerisch beherrschenden Empore. Diese Form war entlehnt von der Marienkirche zu Zwickau, welche 1465-1475 erbaut wurde.

In der Kirche zu Oederan aber, wie in jenen zu Penig und Geithain und sämtlichen kleineren Orten des Erzgebirges, ließ man auch die Pfeiler als Dachstützen fort und schuf lediglich den von den Emporen umgebenen Saal, an den das Chor als etwas Selbständiges sich anlegt. Am entschiedensten und merkwürdigsten zeigt sich die neue Richtung an der Kirche zu Joachimsthal, die erst nach dem Beginne der lutherischen Reformation angelegt wurde. Die böhmische Bergstadt ist in vielen Beziehungen eine Tochter Annabergs. Die ganze Anlage der Kirche ist sehr nüchtern. Sie ist durchaus protestantisch, durchaus zweckmäßig, durchaus im bewußten Gegensatze zu der Altarkirche des alten Glaubens errichtet, so daß hier dem Katholizismus ernste Schwierigkeiten erwuchsen, als er den Bau für seinen Gottesdienst einrichten ließ.

War also das Aufgeben der malerisch reizvollen Grundrißformen der Gotik zu Gunsten einer möglichst klaren, einheitlichen Raumgestaltung ein Werk des Bestrebens, Predigt- und Gemeindekirchen zu schaffen, so zeigt sich dies auch in der Pfeilerbildung. Die Pfeiler wurden nun fast notwendige Übel. Man bildete sie deshalb so einfach als möglich und suchte einen Stolz darin, die Zahl der Stützen unter den Gewölben tunlichst zu beschränken. In Schneeberg ist die sehr nüchterne Führung der Gewölblinien in allen drei Schiffen dieselbe; in Laun tritt eine Eigentümlichkeit der Spätzeit der Gotik auf, nämlich die, daß die Rippennetze aus Bogen gebildet sind, eine Erscheinung, die sich in Brüx, am Hauptchor in Pirna, am Chor der Stadtkirche zu Lommatzsch und an der Annaberger Kirche wiederholt. Diese Formen finden sich auch wieder am Wradislavsaale des Schlosses auf dem Hradschin und in dem erst durch Jacob von Schweinfurt errichteten Wappensaale der Albrechtsburg in Meißen. – Von besonderer Wichtigkeit ist zu sehen, wie die Baumeister sich den Emporen gegenüber verhielten. Man errichtete neben den Pfeilern des Mittelschiffes der alten Kirche die neuen, schwächeren Pfeiler, spannte die Gewölbe ein und konnte dann die alte Kirche aus dem Innern der neuen entfernen. So geschah es in Annaberg. In Annaberg entwickelte sich der Emporenbau nur schrittweise; der älteste Teil ist die „Musika“, die Orgelempore. In der Marienberger Kirche (1558-1564 erbaut) liegt die Sakristei hinter der Empore, welche den ganzen Bau umzieht. Das Chor als solches ist ganz aus dem Plane gestrichen. In der Bergkirche zu Annaberg ruhen die Emporen auf Säulen und ziehen sich ringsum. Je mehr die Strebepfeiler nach innen rückten, desto ungegliederter wurde das Aeußere. In Laun, Freiberg, Schneeberg, Oederan, Buchholz erscheinen die Streben als mehr oder minder schwache Wandstreifen. In Brüx und Annaberg sind die Umfassungswände ebenso glatt wie an den meisten Schloßkapellen. Die Art der Gotik ist umgewendet.

Während an dem Dome zu Köln, wie an den großen französischen Kirchen eine gewaltige Zahl von Nebenkapellen, Strebepfeilern und Bogen, Fialen, Brüstungen und Wimpergen sich äußerlich zeigt, die ein schmales, schlank aufsteigendes Mittelschiff als eigentlichen Hauptraum der Kirche umrahmen, erscheint hier ein äußerst schmuckloser, ganz nach innen gekehrter Hallenbau; während dort das Ganze in seinen zahlreichen Teilen, seinen verschiedenen Schiffen und Kapellen dem Wesen der Heiligen-, Klerikerkirche entspricht, ist hier der Predigtbau bei allem Bauaufwande doch in seiner zweckdienlichen Einfachheit ausgebildet, ein durchaus neues, zwar aus der Gotik entwickeltes, aber keineswegs mehr mittelalterliches Werk geschaffen.

Licht! lautet eine Grundforderung der erzgebirgischen Bauart. Die Meister der erzgebirgischen Predigtkirche fanden auch statt der Abteilung des Baues in verschiedene heilige Teile eine einheitliche Form durch unbefangene Ausgestaltung der Forderungen des neuen Gottesdienstes.

Erzgebirgische Heimatblätter Nr. 5 – Sonntag, den 30. Januar 1927, S. 3