Aus Schlettaus grauer Vorzeit.

Von Schuldirektor Paul Thomas, Schlettau.

Saxa loquuntur = die Steine reden. Die Bedeutung dieses alten Spruches wurde mir so recht klar, als ich dieser Tage an unserm Anger vorüberging und ein Weilchen den fleißigen Händen zuschaute, die dort mit der Ausschachtung des Teiches für den geplanten Stadtpark beschäftigt sind. Meine ganze Aufmerksamkeit wurde dabei auf die ungeheueren zahllosen Wacken gelenkt, die von den Arbeitern aus dem daselbst anstehenden Schlick und Schlemmland herausgepuddelt wurden. Mein erster Gedanke war, daß wir es hier mit Findlingen zu tun haben könnten, wie wir sie in vuielen Nestern in der Norddeutschen Tiefebene bis heran an den Fuß des Erzgebirges wiederfinden. Wer die Insel Rügen kennt, der weiß, daß auch dort an der Küste entlang solche Steinblöcke in staunenerregender Menge liegen, die an verschiedenen Stellen von den Bewohnern zu riesigen Bollwerken aufgetürmt sind, um das Eiland vor der zerstörenden Gewalt der Brandung zu schützen. Diese Findlinge sind zumeist durch die Tätigkeit des fließenden Wassers glatt abgeschliffen und haben nahezu die Gestalt von riesigen Steinkugeln oder Steineiern. Zerschlägt man die Steine, die an der Oberfläche selbstverständlich die Spuren der Verwitterung tragen, so erkennt man, daß es meist Granite sind, aus denen die Findlinge bestehen, Granite allerdings, wie wir sie in den deutschen Gebirgen nicht brechen können. Diese Rollsteine überraschen durch ihre wunderbare Buntheit in der Zusammensetzung. Sie stammen aus Schweden, von der Insel Bornholm und anderen der schwedischen Küste vorgelagerten Inseln. Während der Eiszeit sind sie auf dem Rücken der Gletscher mit nach Süden transportiert worden und wurden auf der Insel Rügen, in der Norddeutschen Tiefebene und weiter südlich bis an den Fuß des Erzgebirges abgesetzt. Noch weiter südlich sind nach den geologischen Beobachtungen die Eiszeitgletscher nicht vorgedrungen. Das Erzgebirge ist also mußmaßlich während der Eiszeit nicht vergletschert gewesen. Als ich nun aber am Anger diese Rollsteinnester sah, wurde ich unwillkürlich an die Eindrücke erinnert, die ich bei meinen geologischen Exkursionen durch die Insel Rügen eingetragen hatte. Sollten wir es etwa hier auch mit einer Urkunde aus der Eiszeit zu tun haben? Ich war begierig, die Rollsteine auf ihre Zusammensetzung zu untersuchen. Ich lasse mit einem Fäustel einige Steinkugeln und Eier zerschlagen. Es sind fast ausnahmslos Basalte, hin und wieder auch Feuersteine (Quarzite), nirgends entdecke ich Granite, vereinzelt aber auch Glimmerschiefer und Gneise, die ja bekanntlich den Grundbau unseres Erzgebirges bilden. Wir haben es demnach hier mit autochthonen (= eingebornem) bodenständigem Gesteinsmaterial zu tun, und die ursprüngliche Vermutung, daß man bei den Ausschachtungsarbeiten ein Eiszeitnest angestochen haben könnte, fällt in sich zusammen. Damit haben aber diese Rollsteine noch lange nicht unser Interesse verloren. Jetzt fangen sie erst ihre Erzählung an.

Die Zeugen alter Zeit.

Die Steine verraten gleich beim ersten Anblick eine intensive Bearbeitung durch das fließende Wasser. Ganz in der Nähe fließt die Zschopau vorüber. Zweifellos befinden wir uns hier im Urbett der Zschopau, die vor undenklichen Zeiten bei weitem nicht der anspruchslose Gebirgsbach war, der er heute ist. Ein mächtiger Strom wälzte sich vor hunderttausend und mehr Jahren durch unsere Gegend und nagte mit seinen reißenden Fluten allmählich das Zschopautal aus, in welchem sich in der geschichtlichen Zeit dann unsere erzgebirgischen Städte und Dörfer anbauten. Dieser Urstrom floß zu einer Zeit, wo die Hebung des Erzgebirges noch nicht erfolgt war. Er hatte mußmaßlich seine Quelle tief im Böhmerlande drin, höchstwahrscheinlich an den Nordabhängen der Oesterreichischen Alpen und hatte Muse, sich auf dem Laufe bis in unsere Gegend zu jenem gewaltigen Strome auszubilden, dessen auswaschender Tätigkeit wir die Bildung des malerischen Zschopautales verdanken.

Granitblöcke als Findlinge bei Schlettau.

Auch nachdem die Aufrichtung des erzgebirgischen Walles durch ungeheure Erdbewegungen – Erdbeben – erfolgt war, der ganze Oberlauf der Urzschopau (die böhmische Strecke) abgeschnitten wurde, brachen sich auf den böhmischen Höhen des neuerstandenen Gebirges neue Quellen durch, die den Mutterschoß unserer gegenwärtigen Erzgebirgsflüsse bildeten. Damals wurde unsere Gegend auch von furchtbaren Vulkanausbrüchen heimgesucht. Wir verdanken ihnen die Entstehung unserer erzgebirgischen Basaltberge. Die Ausbruchsstelle der Basaltlava befand sich auf dem Kamme des Gebirges, etwa in dem Quartier Hammerunterwiesenthal – Oberwiesenthal – Gottesgab. Die Lavaströme wälzten sich talwärts und erstarrten schließlich an ihrer Stirn zu den heute charakteristischen Basaltbergen der obererzgebirgischen Landschaft. Die Basaltlavaströme benutzten bei ihrem Abfluß natürlich die vorhandenen Flußtäler und drängten demgemäß die Flüsse aus ihrem Bett heraus. Die Flüsse mußten sich nun zu beiden Seiten der erstarrten Basaltmassen neue Täler ausnagen. Sie griffen mit staunenswerter Ausdauer und Zähigkeit die so rigoros gewesenen Basaltwände an und schnitten sich ihr Tal immer tiefer und tiefer in das Gefüge des Gebirges ein. Die von den wildschäumenden Fluten der Zschopau losgerissenwn Steinblöcke und Basaltwacken wurden flußabwärts transportiert und dabei abgeschliffen, bis die scharfen ecken und Kanten beseitigt waren. Sand und größeres Flußgeröll ging über die Wacken hinweg, wodurch die Abrundung der Steine immer weiter betrieben wurde.

Wo nun ein solcher Gebirgsbach eine Stelle erreichte, an der die Niveauunterschiede mehr ausgeglichen waren, dort setzte er nach und nach die Produkte seiner auswaschenden und abschwemmenden Tätigkeit ab. An solchen Stellen entstanden jene Nester von Flußgeröll, wie sie heutzutage oft bei Straßenbauten, bei Ausschachtungsarbeiten usw. – nicht selten weitab vom gegenwärtigen Flußbett – aufgeschlossen werden. Ein solches Nest hat man jüngst auch hier in Schlettau bei den Ausschachtungsarbeiten am Anger bloßgelegt. Wir haben mit der Kamera einige Bilder davon festgehalten, denn derlei Bilder haben den Wert von Albumblättern, von Urkunden, die wichtige Aufschlüsse über den Werdegang unserer erzgebirgischen Landschaft geben.

Was lehrt uns dieses Geröllnest? Wir erkennen zunächst, daß das Bett der Zschopau in grauer Vorzeit beträchtlich weiter nach NO zu lag. In grauer Vorzeit, sagte ich. Wer sich die Vorgänge vorzustellen vermag, die schließlich zur Bildung eines solchen Geröllnestes geführt haben, der sieht es ohne weiteres ein, daß geologische Zeiträume nicht mit den uns geläufigen Zeitmaßen gemessen werden können. Hier müssen Maßstäbe angelegt werden, die beinahe über unsere Begriffe hinausgehen. Der Begriff der Ewigkeit fängt an, in unserem Vorstellungsleben Gestalt zu gewinnen. „Tausend Jahre sind vor Dir, wie der Tag, der gestern vergangen ist!“ Aus der riesigen Schotterablagerung ergibt sich dann weiter, daß die Zschopau einstmals viel reißender und schließlich auch wasserreicher gewesen sein muß als heute. Zwar sagt das Sprichwort, daß steter Tropfen den Stein höhlt, aber die staunenswerte Polierarbeit und Steinschleiferei, die hier geleistet worden ist, läßt sich nur von einem ungleich stärkeren Gebirgswasser ausgeführt denken. Die Zschopau war also in früheren Erdperioden ganz wesentlich stärker, und die Quellen auf dem Gebirgskamme müssen deshalb viel mehr Wasser gegeben haben als heute. Die Geröllmassen lehren uns aber weiter, daß die mineralogische Zusammensetzung unserer heimischen Landschaft in jenen fernen Erdzeiten dieselbe war wie jetzt. Urschiefergestein, Quarzite und Basalte bilden das Material der Geröllmassen, also die gleichen Mineralien, die auch noch jetzt das Antlitz unserer heimischen Erde formen helfen.

Auf diesem vorsintflutlichen Geröllneste wird nun in absehbarer Zeit der neue Schlettauer Stadtpark entstehen. Viele von den hier ausgepuddelten Wacken werden in den Anlagen dekorative Verwendung finden und werden so auch fernerhin als Steine am Wege ihre Erzählung aus dunkler Urzeit fortsetzen.

Erzgebirgische Heimatblätter Nr. 24 – Sonntag, den 12. Juni 1927, S. 1