Aus der Sagenwelt des Erzgebirges.

Der Mühlgrabenstollen bei Schloß Scharfenstein.

Im wildschönen Tal der Zschopau, ungefähr in der Mitte zwischen der Stadt gleichen Namens und dem durch seine warmen Quellen bekannten Badeort Wolkenstein, liegt auf Felsengrund die alte Burg Scharfenstein.

Die Zeit der Gründung der trotzigen Feste ist in Dunkel gehüllt. Man weiß aber, daß sie vor sechshundert Jahren bereits gestanden hat.

Viel hat sie im Kommen und Gehen der Zeiten gesehen und erlebt. Die Hussiten haben die Burg ohne Erfolg berannt, und im dreißigjährigen Krieg wurde sie auf Befehl Bernhardts von Weimar belagert und durch List eingenommen, nachdem ein mit dem Innern der Burg vertrauter Zimmermann den Belagerern einen geheimen Weg ins Schloß gezeigt hatte. Die Besatzung, kaiserliche Soldaten, wurden bis auf wenige niedergemacht.

Die Burg Scharfenstein steht auf einem Felsenvorsprung, der eine Höhe von 35 Metern erreicht und die Zschopau zwingt, in einer großen, nach Osten offenen Schleife von der Hauptrichtung abzubiegen.

Durch diese Felsennase, die so entschieden in den Lauf des Flusses eingreift, ist vor alten Zeiten ein Stollen gebrochen worden, der das Wasser des Flusses abfangen und in gerader und wagrechter Richtung weiter führen sollte, sodaß es vor seiner Vereinigung mit dem Hauptstrom aus ziemlicher Höhe herabstürzen und so eine ergiebige Wasserkraft zum Betrieb einer Mühle liefern konnte. In späteren Jahren ist der Stollen zur Erhöhung der Wasserkraft mehrmals erweitert worden.

Auch die Sage hat sich dieses Stollens bemächtigt und läßt ihn in folgender Weise entstanden sein:

Die weiten erzgebirgischen Wälder mit ihren versteckten Höhlen und Schluchten bargen trotz der zahlreichen Dörfer in den Tälern und auf dem Höhen manch verdächtigen Gesellen, der die unzugängliche Wildnis als ständigen Aufenthaltsort erkoren hatte.

Besonders nach dem dreißigjährigen Krieg wimmelte es in Wald und Heide, aber auch in Stadt und Land von allerhand heimatlosem Gesindel. Meist waren es ehemalige Soldaten, die, zum Teil während des Krieges geboren und ohne Zucht und Ordnung aufgewachsen, bettelnd, stehlend und raubend durch die deutschen Lande zogen und zu einer gefürchteten Plage wurden. Viele von ihnen legten Wehr und Waffen auch nach dem Kriege nicht ab. Sie führten in den Wäldern ein freies Räuber- und Wildschützenleben.

Solange diese Gesellen sich nur am Wild vergriffen, waren sie von den Bauern nicht ungern gesehen, denn der Wildstand hatte sich im siebzehnten Jahrhundert so sehr gehoben, daß nicht selten eine ganze Ernte den hungrigen Tieren zum Opfer fiel. Mit jedem abgeschossenen Hirsch wurde ein Feind der Bauern weniger.

Die großen Schloß- und Grundherren freilich dachten anders. Sie belegten den Wilddiebstahl mit schweren, zum Teil unmenschlich grausamen Strafen. In alten Chroniken wird berichtet, wie den Wildschützen Hände, Ohren und Nase abgeschnitten worden sind, wie sie auf lange Zeit gefänglich eingezogen, ja sogar getötet, in Hirschhäute eingenäht und von Hunden gehetzt und zerissen wurden. Die grausamste Strafe aber war das sogenannte Hirschreiten. Es bestand darin, daß man den Wildschützen auf einen für diesen Zweck eingefangenen Hirsch festband und diesen dann in den Wald jagte. Das geängstigte Tier raste mit seiner Last wie toll durch die Wälder, bis es erschöpft zusammenbrach oder in irgend einer Felsschlucht seinen Tod fand. Während des wilden Rittes wurde der unglückliche Schütze von dem Geäst zerrissen und zerfleischt, bis er nach tagelangen Qualen vom Tode erlöst ward.

In die Hände des Schloßherrn von Scharfenstein waren ein paar Wildschützen gefallen. Er beschloß, zum abschreckenden Beispiel für andere Raubgesellen die beiden Missetäter mit der Strafe des Hirschreitens zu belegen. In aller Form wurden sie verhört und verurteilt und von der Strafe, die ihrer harrte, in Kenntnis gesetzt.

Da erbleichten sie; denn sie wußten nur zu gut, was das Hirschreiten für sie bedeutete. Schon sollten sie abgeführt werden, um im Burgverlies auf die Vollstreckung der Strafe zu warten, da fiel der ältere der beiden Wildschützen auf seine Knie und sagte zu dem Ritter:

„Gestrenger Herr, wir wissen, daß wir Euern Zorn reichlich verdient haben. Aber es kann uns niemand bezeugen, daß wir uns an Leib und Leben Eurer Untertanen vergriffen hätten. Nur ein paar Hirsche haben wir zu unserer Nahrung und Notdurft gefällt. Wenn Ihr unser armseliges Leben dafür nehmen wollt, so können wir das nicht wehren. Nur möchten wir Euch bitten, daß Ihr uns das Hirschreiten erlasset, dafür uns die Gnade erzeigt, daß wir mit dem Schwerte vom Leben zum Tode gebracht werden. Aber ich mache Euch, gestrenger Herr, einen anderen Vorschlag. Wir sind von Haus aus Bergknappen. Wir haben, ehe wir das Soldatenhandwerk ergriffen, mit Schlägel und Eisen manchen Stollen getrieben, auch in festes Gebirg. Wenn Ihr uns die Strafe erlasset, so wollen wir uns verpflichten, in drei Tagen und drei Nächten einen Stollen durch den Burgfelsen zu treiben, damit auf der andern Seite genug Wasser zu einer Mühle herausgebracht werde.“

Der Schloßherr hatte den schlichten Worten des Bergmannes mit innerer Teilnahme zugehört. Er ließ sich den Plan noch einmal auseinandersetzen, dann beschloß er, auf das Anerbieten der beiden Wildschützen einzugehen. Er sprach:

„Ihr habt zwar Euer Leben verwirkt nach Recht und Brauch. Aber da das, was ihr im Willen habt, der ganzen Gemeinde zu gutem Nutzen ausgehen kann, so will ich euch wohl Gelegenheit geben, euer Leben zu lösen. Wählt soviel Mannen, als ihr zu euerer Handreichung braucht, und dann geht ans Werk. Könnet ihr aber nicht halten, was ihr versprochen habt, so soll es euch an den Kragen gehen nach Fug und Recht.“

Die beiden Wildschützen waren für den Augenblick zwar gerettet, aber das Werk, das der ältere versprochen hatte, schien die Kräfte von zwei noch so geübten Bergleuten zu übersteigen. Trotz alledem begannen sie sofort ihre Arbeit mit Schlägel und Eisen. Tag und Nacht ertönte das Pochen und Hämmern in dem Felsen; die Hilfsmannschaften, die das abgebrochene Gestein zu entfernen hatten, lösten einander ab, aber die beiden Bergleute hielten aus, sie arbeiteten ja für Leben und Freiheit. Und als der dritte Tag verstrichen war, blitzte das Tageslicht von der andern Seite her in den Felsengang. Die Bergleute sanken zum Tode erschöpft nieder, aber das Werk war vollbracht.

Der Schloßherr erstaunte nicht wenig, als ihm von der gelungenen Tat berichtet wurde. Aber er hielt, was er versprochen. Die beiden Raubschützen wurden zwar des Gebiets von Scharfenstein verwiesen, aber sie hatten doch Leben und Freiheit erarbeitet.

Erzgebirgische Heimatblätter Nr. 34 – Sonntag, den 22. August 1926, S. 3