Alte erzgebirgische Christmetten.

Wenn man alt wird, in der Gegenwart nicht viel mehr zu suchen und von der Zukunft noch weniger zu hoffen hat, dann wendet man seine Blicke unwillkürlich rückwärts und sucht Trost und Erquickung in der Erinnerung an der Jugend „goldene Zeit“. Namentlich die Kinderjahre sind es, die in der Erinnerung auch den Greis wieder jung machen können, wenn er im Geiste alle jene Bilder wieder an sich vorüberziehen läßt, die er harmlos spielend und scherzend als Knabe einst geschaut. Und je einfacher die Verhältnisse waren, unter denen er aufwuchs, um so wertvoller wird für ihn ein Rückblick auf die Erlebnisse seiner Kindheit sein. „Hoffnung und Erinnerung sind Prospektmalerinnen des menschlichen Lebens“, sagt irgendwo Jean Paul. Auch das Unbedeutendste wird durch die Erinnerung verklärt, und, wie die Landschaft doppelt schön erscheint, wenn am Abend eines holden Sommertages sie die sinkende Sonne noch einmal in goldene Lichter taucht, so wandelt uns wie mit goldenem Zauberstabe Erinnerung der Kindheit unschuldvoll verlebte Tage im Nu zum Paradiese um.

Keine Zeit des Jahres ist arm an Freuden für die Kinderwelt, aber die mannigfaltigsten und schönsten bringt doch der sonst so rauhe Winter, zumal in dem lieblichsten aller Feste, der seligen, fröhlichen Weihnachtszeit. Und wie manches in der Vorahnung, in der Erwartung besonders herrlich erscheint, so ist’s auch hier, und zwar bis zu dem Grade, daß die Weihnachtsfreude, für die Kinder wenigstens, schon wochenlang vor dem Feste beginnt, ohne doch glücklicherweise mit demselben zu enden. Im Erzgebirge, wo das Weihnachtsfest von Alters her mit allerlei Zutaten und Gebräuchen besonders reich ausgestattet ward, und wo man, wie im Althergebrachten überhaupt, so auch an diesen Weihnachtsgebräuchen mit besonderer Zähigkeit festhält, beginnt die Weihnachtsfreude für die Kinderwelt mindestens schon mit dem 1. Advent und dauert fort bis zum sogenannten „hohen Neujahr“. So war es wenigstens noch zu der Zeit, wo der Erzähler in der lieben kleinen Gebirgsstadt Stollberg in die Schule ging, und es ist wohl heute noch so, wenn nicht in den großen Städten, so doch in den kleineren und in den Dörfern.

Bei uns also ging’s vor 40 und mehr Jahren etwa so her. Am Sonnabend vor der ersten Adventswoche sagte der Kantor in der Singstunde: „In der nächsten Woche, Kinder, bringt ihr die Mettenbücher mit, wir wollen die Weihnachtslieder einüben.“ Die Mettenbücher waren aber unscheinbare Hefte, in die wir selbst oder unsere Väter und Großväter alte schöne Weihnachtslieder, die heute leider meist außer Gebrauch gekommen sind, aus alten Gesangbüchern mit großem Fleiß eingetragen hatten. Besonders geschätzt waren oft nach der Art der alten katholischen Meßbücher, in die irgend ein künstlerisch veranlagter Mönch wunderbar verschnörkelte Anfangsbuchstaben und kleine Heiligenbilder prachtvoll eingezeichnet, mit Bildern herrlich geziert. Die hatte der Großvater oder Urahn selber gezeichnet oder gemalt, und oft waren sie wohl auch danach. Uns Kindern erschienen sie aber doch als Kunstleistungen ersten Ranges und hätten wir selbst den Raphael oder eines seiner unsterblichen Werke gekannt, ich zweifele, ob wir ihm die Palme zugesprochen haben würden. Eines diese bildergeschmückten Mettenbücher erinnere ich mich heute noch und Sehnsucht beschleicht mich, es zu besitzen. Vorn sah man Adam und Eva im Paradies. Grellgrün war der kreisrunde Wipfel des „Baumes der Erkenntnis“ gemalt, aus seinem Laube lachten knallrot, wie rechte Weihnachtsäpfel sein müssen, verlockend die Früchte. Da war es kein Wunder, daß Adam leider angebissen. Das herrlichste Bild von allen war aber das Christkindlein in der Krippe im Stall mit Joseph und Maria und den heiligen drei Königen davor. Sonst herrschte in den Bildern die rote und die grüne Farbe vor, hier aber war auch ein schönes tiefes Blau und sogar richtiges Gold und Silber mit in Anwendung gebracht. Vielleicht war die Gruppierung ungeschickt, die Figuren allesamt verzeichnet, aber das Bild machte dennoch in seiner rührenden Einfachheit einen so tiefen eindruck auf mich, daß ich glaube kaum eine größere Wirkung erfahren zu haben, als ich später als 15jähriger zuerst in Dresden Corregios „heilige Nacht“ geschaut.

Der Hauptinhalt aber und oft der einzige unserer alten Mettenbücher waren doch die alten Lieder. Ich kann sie nicht wieder vergessen und weiß sie heute noch auswendig. Da hieß es in dem einen: „Ihr Gestir’n, ihr hohen Lüfte und du liebes Firmament usw.“; in einem anderen: „Gar lustig jubilieren die lieben Engelein, mit ihren Stimm‘ sie zieren usw.“ Das schönste war aber doch ein lateinisches:

Quem pastores laudavere,
Quibus angeli dixere;
Absit vobis am timere.
Natus est rex gloriae.

Was das bedeuten sollte, wußten wir recht wohl, obwohl wir damals die Sprache der Gelehrten noch nicht verstanden. Eine Uebersetzung war den Zeilen beigegeben, die lautete: „Den die Hirten lobten sehre und die Engel noch viel mehre, fürchtet euch nun nicht so sehre, euch ist geboren der König der Ehre.“

Das Auswendiglernen und Einüben der Lieder dauerte bis zum Schulschluß vor Weihnachten. Beim Mettengottesdienst in der Frühe des Weihnachtsfeiertages wurden sie gesungen. Nie war die Kirche so gefüllt wie zur Metten. Früh um 5 Uhr, lange vor Tagesanbruch, wenn noch alles finster war und nur der Mond und die Sterne ihr bleiches Licht auf die Erde herabwarfen und die Krystalle des festgefrorenen Schnees funkeln ließen, begannen die Metten. Niemand mochte dabei fehlen, obgleich das Gedränge oft lebensgefährlich war. Die eingepfarrten Dörfer entsendeten ein starkes Aufgebot; auch aus der Stadt blieb so leicht Niemand zurück.

Die Schützen in Uniform stellten sich auf dem Altarplatz auf und hielten mühsam die Ordnung aufrecht. Dennoch ging es ohne Angst und ohne kleine Unglücksfälle manchmal nicht ab. Namentlich die Gefahr, daß ein Feuer entstehen könnte, war groß. Zwar hingen zu meiner Zeit schon schöne messingene Kronleuchter von der Decke herab und waren mit Lichtern besteckt, aber alter Gewohnheit gemäß brachten noch immer die meisten, obwohl es sogar verboten war, ihr „eigenes Licht“ mit zur Kirche und „ließen es leuchten“. Da gab’s große und kleine Lichte, weiße und bunte, je nachdem es einer im Vermögen hatte. Die Lichte pflanzte man vorsichtig vor sich auf die Bank oder auf der Empore auf und zündete sie an. Das gab dann einen hellen Glanz und der Seifensieder, mein Onkel, hatte seine Freude daran, die großen und kleinen Kirchgänger aber auch, oder vielmehr erst recht. Während des Gottesdienstes wurden die schönen alten Lieder gesungen, eine kurze Predigt gehalten und – das wurde mit besonderer Feierlichkeit angehört – von einem Schüler der ersten Klasse die „Weissagung aus dem Jesaias“ mit singender Stimme vorgetragen. Wer dieser Ehre gewürdigt ward, der war bei uns damals ebenso berühmt, wie weiland bei den alten Griechen der Sieger in Olympia, auch erhielt er aus einer alten Stiftung „des seligen Herrn Bürgermeisters Liebe“ ein kleines Geldstipendium. Der geneigte Leser wird mir’s nicht übel nehmen, wenn ich jetzt in meinem Alter ihm verrate, daß ich selbst einmal „beinahe“ dieser Ehre gewürdigt worden wäre. Es wäre aber Nepotismus gewesen (anstößige Berücksichtigung naher Verwandter), denn „der selige Herr Bürgermeister“ war ebenso, wie der Seifensieder, mein Onkel.

Erzgebirgische Heimatblätter Nr. 50 – Sonntag, den 12. Dezember 1926, S. 3