Abendläuten.

Von Dr. Alfred Seeliger.

Der besinnliche und tiefe Schleiermacher nennt seine berühmten „Monologe“ eine „Neujahrsgabe für das Deutsche Volk“. Dort sagt er, man könnte eigentlich jeden Tag im Jahre als Neujahrstag betrachten und ihn zum Anlaß nehmen, sich selbst und seine Mitmenschen genau zu prüfen. Diesen Vorschlag sollten wir recht beherzigen! – Wir sollten täglich über uns und die Welt nachdenken, wenn auch nur einige Minuten. Am besten eignet sich dazu der Abend und besonders die Zeit des Abendläutens! Denn in diesem Augenblick ist der eigentliche Werktag beendet, wenigstens im engeren Sinne; unser äußeres Werk ist vollbracht, und andererseits haben wir noch den Abend, vielleicht die herrlichste Zeit der Erdumdrehung, vor uns. Der Berufszwang entläßt uns aus seinem harten Joch, wir sind nun mehr oder weniger frei von der Welt, frei für uns, frei für die höchsten, letzten, ewigen Dinge!

Dazu kommt: Wir werden durch das Abendläuten daran erinnert, daß wir nun Gefährten haben, daß mindestens alle Christen und außer ihnen noch viele andere in diesem Augenblick mit uns unterm gleichen Meridian eine stille Gemeinschaft bilden. Diese Einrichtung des Abendläutens unter demselben Längengrad von Pol zu Pol gehört zu den schönsten Einrichtungen der Kirche. Die Päpste haben hier ein Meisterstück der Seelenkunde und Seelenerziehung vollbracht. Dieses Meisterstück hat die Kirchenspaltung und ihre Folgen noch immer ein wenig überbrückt, noch immer ein Stück gemeinsamer, hoher Seelenkultur gerettet.

Das Abendläuten erinnert uns daran, daß wir nicht nur dem Mikrokosmos der Erde verhaftet sind – durch Schwerkraft und Sinnenorganisation -, sondern gleichzeitig durch beide Gewalten auch dem Makrokosmos, dem Weltraum mit seinen Sternenheeren, Milchstraßen und Weltnebeln. Dieser Weltraum mit seinen Sternenheeren, Milchstraßen und Weltnebeln ist nicht mehr irdisch, er ist buchstäblich „überirdisch“ – aber nicht übersinnlich. Er gehört noch zu uns, wir noch zu ihm. Aber – und das ist das unbeschreiblich Große und Herrliche – wir dürfen über das unermeßliche große Sinnenreich mit dem Fernrohr unseres Geistes und Denkens hinausschauen in Reiche, die jenseits der verdämmernden Sinnesgrenzen aufleuchten, wie der Abendstern am Fichtenwalde, wie der Vollmond am Wolkensaum. Denn nun blendet uns nicht mehr das herrschende, glänzende Tagesgestirn, wir sehen unermeßlich weiter, höher, tiefer, hinaus in die grenzenlose Schöpfung. Unser leibliches und geistiges Auge ist nun klarer, gesammelter raumdurchdringender. Und was sehen wir da nicht alles? Wir sehen nun wirklich „zwischen Himmel und Erde Dinge, von denen sich unsere graue Schulweisheit bei Tage wahrhaftig nichts träumen läßt“, denn wir fühlen uns nun nicht mehr beobachtet von unseren Mitmenschen, Vorgesetzten, Amtsgenossen, Untergebenen, von den Machern der öffentlichen Meinung, von den Gewaltigen der Zeitungen, Universitäten, Akademien und Parlamente. Wir sind allein mit uns und der großen, feierlichen Natur. Diese große, feierliche Natur ist nun für unser tiefstes Wesen keine „koordinatenlose Bezugsmolluske“ der Relativitätstheoretiker – sondern unser Vaterhaus, in welchem wir uns sicher und geborgen fühlen vor den Stürmen der äußeren Welt, unserer inneren Zweifel und der dämonischen ursächlichen Verkettung. Wir kommen nun los und frei von den anscheinend undurchbrechbaren, angeborenen Ketten und Banden der drei „Prinzipia individuationis“, welche die sogenannten „Former der Anschauung“ bilden: Raum, Zeit und ursächliche Verkettung sind diese schrecklichen, ehernen Fesseln, die den armen, „empirischen“ Menschen festbinden und unfrei machen. Aber nun fällt es beim Abendläuten wie Schuppen von unsern Augen, und wir werden mit einem Mal klarsehend und uns bewußt, daß wir eben nur „empirisch“, das heißt, im trivialen Werktagssinne durch diese drei Formen der Anschauung gefesselt und „bestimmt“ sind, daß wir aber im höheren metaphysischen Sinne frei sind, Kinder des Lichtes und des Herrgotts!

Wir erkennen in dieser stillen, feierlichen Abendstunde, daß alles – aber auch wirklich alles im Bereiche des menschlichen Wissens doch nur von Menschen herrührt, das will sagen, von irdischen Menschen, die bei aller etwaigen Riesengröße ihres Geistes doch nur unaussprechlich klein, erbärmlich, armselig, blind und hinfällig sind im Vergleich mit der Gewalt, die diesen unermeßlichen Weltraum mit seinen Sternenheeren, Milchstraßen und Weltnebeln geschaffen und geordnet hat und in ewig geheimnisvoller Weise und Kraft lenkt und leitet. Wir erkennen hier klar und deutlich, daß wir ja nicht wissen, woher wir kommen, wohin wir gehen; daß wir keine blasse Vorstellung von Anfang und Ende haben, daß wir im irdischen Sinne keinen Zweck und kein Ziel zu erkennen vermögen, daß wir aber – und das ist das Herrliche – alles ahnen und hoffen dürfen. Da uns nun in diesr Feierstunde „Niemand“ stört, dürfen wir nach Herzenslust als Analytiker und Synthetiker, als Auslöser und Zusammenfasser der Erscheinungen und Wissensgebiete wirken: Wir dürfen und können nun die höchste Forderung der wahren und echten Philosophie erfüllen, das heißt, in dem scheinbar Verschiedenen das Gemeinsame, in dem scheinbar Aehnliche das Verschiedene und Trennende feststellen und in unserem Herzen bewahren als etwas Ewiges, Heiliges, Göttliches! Wir dürfen uns jetzt bewußt werden unserer organischen Körper- und Geistesschranken – und unserer Freiheit von diesen schrecklichen Schranken!

„Daß wir Menschen nur sind, der Gedanke beuge das Haupt Dir! Doch daß Menschen wir sind, richte Dich freudig empor!“

Erkennen wir dies aber, dann dürfen wir die entsetzliche, zermürbende Angst und Furcht des Tages über Bord werfen und getröstet und hochgemut wie jener Dürersche gepanzerte Ritter zwischen Tod und Teufel dem Gral entgegenziehen; denn alle nur irgendwie denkbaren Sorgen und Aengste sind ja nur mit dem irdischen Leben verbunden, welches eben den drei furchtbaren Formen der Anschauung unterworfen ist – aber mit dem irdischen Tode sofort ein absolutes Ende hat! Vor dem irdischen Tode brauchen wir uns in dieser stillen Abendstunde nicht zu fürchten! Denn er ist ja – metaphysisch – ein Befreier und Toröffner zu einem neuen Leben, das frei ist von den schrecklichen Formen der Anschauung und ihren endlosen Qualen. Wie dieser ernste, beruhigende, sammelnde, tröstende, feierliche Abend die Spanne der Erdumdrehung nicht abbricht, – sondern nur unterbricht, so wird auch am Abend des irdischen Lebens der „allgewaltige“, befreiende Tod unser metaphysisches Leben nur unterbrechen – nicht abbrechen!

Haben wir aber dies begriffen und kristallklar erkannt, dann dürfen wir trotz aller Demut und Ehrfurcht vor der ewigen, geheimnisvollen, metaphysischen Gewalt, die unser Leben und den ganzen Kosmos lenkt, allen irdischen drohenden Gewalten männlich und tapfer entgegenschauen und entgegentreten. Auch den Versailler Gewalten, Ketten und Schergen. Denn diese sind irdisch und damit dem Untergange geweiht. Wir aber sind frei, wenn wir es nur wollen!

Erzgebirgische Heimatblätter Nr. 26 – Sonntag, den 27. Juni 1926, S. 3