Wie das Lied entstand: „Mach’s mit mir, Gott, nach deiner Güt‘:“ (3)

(Fortsetzung und Schluß.)

Ueber Scheins Gesicht flog ein Lächeln, als er, im Uebrigen ernst genug, erwiderte: „Ich habe ein solches Lied und die Melodie. Jetzt eben fielen sie mir ein. Es wird nicht schwer sein, der ersten Strophe, die ich bereits vollendet, eine solche Fortsetzung zu geben, daß das Lied der lieben Verstorbenen, deren christliche Gesinnung und Gottergebenheit uns Allen sattsam bekannt gewesen, wohl in ihrem Sinne gedichtet zu sein scheinen kann und den Anverwandten, dem hochverehrten Herrn Bürgermeister vor Allem, zum Troste gereicht. So laß mich denn jetzt ein wenig allein, daß ich den günstigen Augenblick benutze, das Werk zu vollenden.“ Er küßte sein Weib auf die Stirn und entließ die Knaben mit zärtlichem Händedruck.

Als sich die Türe hinter ihnen geschlossen, wiederholte er sich noch einmal leise die Worte der ersten Strophe. Dann fuhr er, den Namen der verstorbenen Freundin benutzend, so daß der Anfang jeder Strophe und die Mitte in ihren Anfangsbuchstaben die Worte „Margarita Werner“ ergeben, das Ganze also, dem Geschmack der Zeit entsprechend, ein Akrostichon darstellt, mit Eifer fort zu dichten und hatte bald das ganze Lied zu Papier gebracht:

MAch’s mit mir, Gott, nach deiner Güt‘,
Hülf mir in meinem Leiden, :/:
Ruf ich dich an, versag‘ mir’s nit:
Wenn sich mein‘ Seel‘ will scheiden,
So nimm sie, Herr, in deine Händ‘!
Ist Alles gut, wenn gut das End‘.

Gern will ich folgen, liebster Herr,
Du wirst mir’s nicht verderben; :/:
Ach, du bist doch von mir nicht fern,
Wenn ich gleich hier muß sterben,
Verlassen meine liebsten Freund‘,
Die’s mit mir herzlich gut gemeint.

Ruht doch der Leib sanft in der Erd,
Die Seel‘ zu dir sich schwinget, :/:
In deiner Hand sie unversehrt
Durch’n Tod in’s Leben dringet,
Hier ist doch nur ein Tränental,
Angst, Not, Müh‘, Arbeit überall.

Tot, Teufel, Höll‘, die Welt, die Sünd
Mir können nichts mehr schaden; :/:
An dir, o Herr, ich Rettung find,
Ich tröst‘ mich deiner Gnaden.
Dein einz’ger Sohn aus Lieb und Huld
Für mich bezahlt hat alle Schuld.

Was sollt‘ ich denn lang traurig sein,
Weil ich so wohl bestehe, :/:
Bekleid’t mit Christi Unschuld rein,
Wie eine Braut hergehe?
Gehab dich wohl, du schnöde Welt,
Bei Gott zu leben mir gefällt!

Schein erholte sich noch einmal. Eine kurze Ruhepause trat ein, während welcher er wieder mit großem Fleiße sowohl seinem Amte in der Schule oblag, als auch der Ausübung seiner Kunst mit Eifer sich widmete. Er hatte die Freude, zu erleben, daß seine Lieder und Melodien, geistliche und weltliche, immer weiter in Deutschland sich verbreiteten. Bald gab es keine evangelische Gemeinde mehr, in der man nicht ein oder das andere Lied Scheins nach der von ihm erfundenen Melodie beim Gottesdienste gesungen und sich von Herzen daran erbaut hätte. Die Not der Zeit selber, das immer weitere Umsichgreifen des entsetzlichen Krieges, machte die Evangelischen nur um so williger, vielmehr begieriger, nach der Weise Davids ihre Seufzer und Klagen im frommen Gesange vor den Herrn zu bringen. Das evangelische Kirchenlied hat damals in mehr als einem Sinne Rettung gebracht und vor dem Schlimmsten bewahrt. Unter denen, die dasselbe damals mit am meisten gefördert und zu Ehren gebracht, ward auch Scheins Name immer und von nicht wenigen mit besonderem Danke, mit besonderer Anerkennung genannt.

Aber gefeierter fast war er als weltlicher Liederdichter. Trotz aller Trübsal war doch Lebenslust und froher Mut im deutschen Volk noch nicht erstorben, die Jugend zumal suchte und fand Gelegenheit, sich zu erheitern in fröhlicher Geselligkeit, bei Tanz und festlichem Gelage. Nicht bloß bei Kindern wechselt in raschem Umschwung Weinen und Lachen, auch bei Erwachsenen folgt oft den Tränen, die der Schmerz erpreßt, fast mit Gewalt hervorbrechend, vorübergehend froher Sinn und Heiterkeit, so daß sie, obwohl rings umdroht von Not und Todesgefahr, mit gierigen Händen dennoch greifen „nach dem Beerlein Sinnenlust“.

Damals nahmen die Lieder des „Venuskrentzlin“ und die „Waldlieder“ ihren Weg durch ganz Deutschland, ja, sie verbreiteten sich, namentlich im Gefolge der studierenden deutschen Jugend oder auch abenteuerlustiger Krieger bis weit ins Ausland. Es gab bald kein studentisches Gelage mehr, wo man nicht „aus dem Schein“ gesungen hätte und Scheins Name flog, wie ein Meteor, das, am Himmel auftauchend und weithin Glanz verbreitend, seine Bahnen zieht, von bewundernden Lippen genannt, durch alle Lande.

1630 kehrte die Krankheit mit verstärkter Heftigkeit wieder. Noch einmal unternahm Schein die beschwerliche Reise nach Karlsbad, auch diesmal ohne Erfolg. Gegen Ende des Jahres war es nicht mehr zu verkennen, daß seine Leiden mit seinem Leben bald ein Ende haben, „daß der getreue Gott ihn nunmehr ausspannen würde.“ In stiller Ergebung, wie es einem Christen geziemt, schickte sich Schein hierzu. Er „disponierete seine Sachen alle selbsten und ordnete an, wie es nach seinem Tode sollte gehalten werden.“ In den ersten Tagen des November, als mit der zunehmenden Rauhheit der Witterung seine Leibesschmerzen immer größer wurden und er sich in seiner Schwachheit nur mit Mühe noch aufrecht erhielt, begehrte er, noch einmal sich mit dem heiligen Abendmahl, „als dem rechten Viatico und Zehrpfennige zur himmlischen Reise“ zu versehen. 14 Tage darauf, den 19. November, morgens früh, kurz vor 5 Uhr verschied er sanft in den Armen seiner Gattin.

Um den Heimgegangenen trauerten nicht bloß die ihm näher stehenden Kreise, die ganze Stadt fühlte den schweren Verlust mit. Am 21. November bettete man ihn zur letzten Ruhe. Sein Beichtvater, der Professor der Theologie und Pastor zu St. Nikolai, Johann Höpner, hielt ihm die Leichenpredigt „über das Trostsprüchlein S. Pauli aus dem 1. zum Timotheus 1.  Das ist gewißlich war und ein thewer werthes Wort etc.“ Die Predigt ward nachmals gedruckt und samt angehängtem Bericht über sein Leben zugleich mit der lateinischen Rede, die zu des Toten Gedächtnis der Rektor der Universität gehalten und worin er in zierlichen Wendungen namentlich auch des Verstorbenen himmlische Kunst gepriesen, öffentlich herausgegeben. Diesem Hefte sind nach der Sitte der Zeit eine Reihe lateinischer und deutscher „Zuschriften“ beigegeben, in denen seine gelehrten Freunde des Verstorbenen Tugend und Gaben feiern.

Paul Fleming, obwohl damals noch Student, steuerte hierzu nicht weniger als 3 Gedichte bei, eine lateinische Ode, ein lateinisches Epigramm und ein deutsches Anagramm. Das Epigramm lautet in deutscher Nachdichtung etwa so:

„Daß Du, herrlicher Schein, Deinen Namen verewigt auf Erden,
Wer in unserem Land, Trefflicher, wüßte das nicht?
Liebliche Lieder entlockest Du viel Deiner Freundin, der Laute,
Wahrlich, ein Wunder hinfort bist Du dem spät’sten Geschlecht.

Jetzt, ein Strahlender selbst, gesellt zu den strahlenden Sternen,
Strahlest Du weit in die Welt uns Deinen himmlischen Glanz.
So erkennt man wahres Verdienst nach dem Tod, und die Ehre,
Die das Genie Dir erwarb, nimmer begräbt sie das Grab.“

In dem deutschen Anagramm trägt Fleming dem Geschmacke seiner Zeit Rechnung. Er spielt mit dem Namen „Johann Hermann Schein“ und singt:

„Vor sprach ein Jedermann, als du noch hier kunst sein:
Schein ist ein hoher Man, Schein ist ein hoher Name;
Jetzt spricht man, weil Dich Gott zu sich zu nehmen kame:
Schein war ein hoher Nam, ein hoher Man war schein.

Ich aber spreche drauf: War Schein ein hoher Man,
War Schein ein hoher Nam, als Schein nur schien auf Erden,
Wieviel ein höhrer Man und Name wird Schein werden,
Nun Erd und Himmel er zugleich bescheinen kann.“

So ehrten die Freunde des Toten Gedächtnis, so prophezeiten sie ihm im Liede Unsterblichkeit. Aber die Welt vergißt rasch. Obwohl Johann Hermann Schein ohne Zweifel zu den ausgezeichnetsten Komponisten nicht bloß seiner Zeit, sondern, wie dies zum Beispiel auch Reißmann „Deutsches Lied“ bezeugt, sogar aller Zeiten gehört, ist doch heute sein Name fast schon der Vergessenheit anheimgefallen. Gerade die einst am meisten gesungen wurden, die Lieder des „Venuskrentzlin“ und die „Waldlieder“, wer kennt sie heute noch? Eins nur hat sich erhalten bis auf unsere Tage, lebt fort in den Gesangbüchern unserer deutschen evangelischen Gemeinden, wie im Gedächtnis zahlreicher frommer Christen und gereicht heute noch diesen und allen Angefochtenen in schweren Stunden zum Trost und zu wahrer Erquickung, das Lied, das Schein in Todesahnung einst sich selbst gesungen und dann der verstorbenen Freundin, der Margarita Werner, in den Mund gelegt:

„Mach’s mit mir, Gott, nach deiner Güt etc.“

Möge das Lied seine tröstende Kraft auch ferner bewähren und Scheins Namen bis auf die fernsten Zeiten bringen!

Erzgebirgische Heimatblätter Nr. 46 – Sonntag, den 27. November 1927, S. 2