Vom Leßig Franz.

* 1816 , † 1883 zu Buchholz. *)

Von Max Rothe.

Franz Leßig in seinen besten Jahren.

Man hört heute noch von den heilkräftigen Leßigtropfen reden. Und wenn man die Unordnung in irgendeinem Raume treffend kennzeichnen will, so sagt man wohl: „Es sieht hier aus wie beim Leßig Franz.“ — Wer war dieser Mann? — Es mag 50 oder 60 Jahre her sein. Da schiebt sich am frühen Morgen durch die Tür des unteren Eckhauses an der Katharinenstraße und Neugasse eine lange, hagere, starkknochige Gestalt, der man an Haltung und Gebaren den behäbigen, geachteten Bürger ansieht. Es ist der Posamentiermeister und Stadtverordnete Franz Leßig. Es wird ihm nicht leicht geworden sein, sich mit seinen beiden Wasserkannen durch die mit Kisten, Säcken, Körben und allerhand Gerümpel verbarrikadierte Hausflur durchzuarbeiten. Er biegt in die Neugasse ein. Mit Wohlgefallen gleiten seine Blicke über die prächtigen Fuchsien hin, die seine Fensterstöcke zieren. Dann strebt er dem Wasserbehälter an der linken Seite der oberen Neugasse zu und füllt seine Kannen. Bevor er sich zum Abstieg rüstet, bearbeitet er mit seinem großen, blauen, weißgetupften Schnupftuch die etwas gerötete Nase, an der sich beständig ein braunglitzernder Tropfen mit Mühe festzuhalten sucht. Dann kommt eine mächtige birkene Schnupftabakdose zum Vorschein, der er mit Behagen zuspricht und die darnach, um ein bedeutendes erleichtert, in ihr Versteck zurückwandert. Nun ist er mit den gefüllten Kannen wieder unterwegs.

„Aber Herr Leßig“, redet ihn nach freundlichem Morgengruß Nachbar Preuß an, „da mühen Sie sich nun Tag für Tag mit dem Wasserholen ab. Warum überlassen Sie diese Arbeit nicht Ihrer Marie?“

Mit der gutmütigen Antwort: „Mr will’s doch sein Leit’n net gar esu sauer mach’n“, löst der Gefragte ohne Kopfzerbrechen das schwierige Problem der Arbeiterfrage. — Die Leßig-Marie, wie man sie nach ihrem Dienstherrn allenthalben nennt, stammt aus Frohnau. Sie ist der dienstbare Geist im Hause. Herr Leßig ist nämlich ledigen Standes. Wohl hatte er einst eine starke Zuneigung zu dem Dienstmädchen seiner Eltern gefaßt, doch sein Vater, der Kugelfransenverleger war, wußte die Heiratspläne seines verliebten Sohnes zu durchkreuzen. Das nahm diesem die Lust und den Mut zu weiteren Eroberungen. — Herr Leßig trägt also arbeitswillig seine Wasserkannen ins Haus. Nach kurzer Zeit erscheint er wieder im Rahmen eines der geöffneten Fenster des Erdgeschosses an der Neugasse. er hat ein schwarzes Tuch um den Hals geschlungen. Das verleiht ihm im Verein mit dem langen, schwarzen Rock, den er das ganze Jahr über trägt, ein würdiges Aussehen. Die Hände gleiten ordnend durch das lange, dichte, stark ergraute Haar, das er höchstens ein- oder zweimal im Jahre schneiden läßt. Damit ist die Morgentoilette beendet. Vielstimmiger Kanariengesang schlägt an sein Ohr und macht ihn froh. Leute, die die Neugasse hinauf- oder hinuntergehen, verweilen vor dem Hause und lauschen den kunstvollen Schlägen und Trillern der jubilierenden kleinen Sänger. Ihr Herr und Meister ist glücklich, daß man seinen Lieblingen diese Beachtung schenkt. Er wandert von Bauer zu Bauer und versorgt seine Schützlinge mit Futter und frischem Wasser, das er soeben geholt. — Eine Heimarbeiterin aus Frohnau betritt die Stube. Sie kauft den für Kugelfransen nötigen festen schwarzrn Zwirn, mit dem Herr Leßig handelt. Er wiegt ihr für einen Fünfer oder Sechser ab. Währenddessen sieht sich die Frau im Zimmer um. Sie ist nicht das erstemal da, aber immer wieder schüttelt sie den Kopf, denn sie kann nicht begreifen, daß bei dem wohlhabenden Herrn Leßig eine so wilde Unordnung herrscht. Da ist kaum ein Fleckchen in der ganzen Stube, das nicht mit Gegenständen aller Art belegt oder behängt ist. Die Augen der Frau mustern den Wirrwarr auf dem Tische. Dort haben sich in friedlichem Auf- oder Nebeneinander zusammengefunden: ein seit langem in Gebrauch genommenes Handtuch, eine blaue Schürze von gleicher Beschaffenheit, schadhaft gewordene Strümpfe, Zeitungen und Briefe, Bücher und Noten, Tinte und Feder, eine Wage mit Gewichten, Zwirnsträhne, Blumenäsche, Schüsseln, Teller und Töpfe mit Speiseresten, Hammer und Zange mit Nägeln, Oelkanne und Tischlampe. Und so sieht es in jedem Winkel aus. Die Frau soll Platz nehmen. Aber wo? Jeder Stuhl ist belegt. Halt! Auf der sofaähnlichen Pritsche liegt nur eine zusammengeknüllte Decke. Dort läßt sich die Kundin am Rande vorsichtig nieder.

“ ’s Bett is noch net gemacht“, entschuldigt sich Herr Leßig, weil die Frau die Decke ein wenig beiseite schiebt.

„Schlofen Sie de of dare Pritsch?“ fragt die Frau und blickt durch die offene Schlafstubentür auf die hochgebauschten Federbetten.

“ ’s is efacher vor mir“, meint der Lebenskünstler, „un mei Marie hot net su viel Imständ.“

„Eper zieht’r sich a net emol aus bein Zebettgiehe,“ denkt die Frau im stillen, nimmt ihre Ware in Empfang, bezahlt und geht.

Das Geld wandert in ein flaches Körbchen, das sich auf dem Fensterbrett befindet und mit einer ansehnlichen Menge kleinerer und größerer Geldmünzen angefüllt ist. Hier haben des Hausherrn Barmittel jahraus, jahrein ihren Platz, und wenn jemand sein Befremden darüber äußert, so beruhig sie der Sorglose mit den schlichten Worten: „Mir hot noch niemand wos genomme.“ —

Im Laufe des Tages stellen sich noch eine Menge Kunden ein. Man kauft bei ihm nicht nur Zwirn, sondern auch Glas und Leinwand, die in einem Ballen angeschmutzt in der Stube liegt.

Niemandem kommt es in den Sinn, die empfangene Ware auf ihr richtiges Gewicht oder Maßb hin nachzuprüfen, denn Herr Leßig betrügt keine Menschenseele, eher ist es ein Lot zu viel als zu wenig an der Ware. Und ist beim Einkauf das nötige Geld nicht mit zur Stelle, so schadet es auch nicht. Herr Leßig leiht bereitwillig und fordert keinen vor den Richter, der sich dauernd zahlungsunfähig erweist. —

Wieder geht die Tür. Ein Rückerswalder Bauer hinkt herein.

„Wu fahlt’s de?“ forscht der Vielbeschäftigte.

„Ich ho setes Reißen in de Be“, erklärt der Kranke, „do sei doch de Leßigtroppen gut defir, net wahr?“

„Dos gelab ich. Meine Troppen halfen vor alles. Wolln Se e Flaschl?“

„Nu, e ganz Flaschl is mir ze teier, ka ich net e halbes krieng?“

Herr Leßig versichert seine Bereitwilligkeit und ist schon dabei, mit einem vollen der dünnhalsigen Fläschchen ein leeres bis über die Hälfte zu füllen. Den Rest gießt er sich in die hohle Hand und verreibt die grünlich schwarze Flüssigkeit in seinem Haar, das alsbald zur Verwunderung der Leute eine grasgrüne Färbung annimmt.

Wie der Bauer die berühmten Leßigtropfen in die Tasche steckt, fühlt er sich schon bald genesen, und mit der festen Zuversicht auf baldige Heilung trottet er heim.

Herr Leßig stellt die Tropfen nicht selbst her. Er bezieht sie aus Holland. Sie führen ihren Namen nur nach ihm, weil er den alleinigen Vertrieb hat. Der Glaube an ihre Wunderkraft ist auch heute noch nicht erschüttert. Sie sind beim Hinkel Karl auf der Katharinenstraße zu haben. —

„Grieß Gott, Ludewig“ klingt es einem neuen Ankömmling entgegen, „wu brengt de dich dr Wind har?“

Der so Angeredete ist der Krieg Ludewig, der erste Verleger für Kugelfransen, dessen Haus, vom Volke „Ludwigslust“ genannt, als einziges in der Runde über dem Steinbruch oberhalb der großen Buche thront. Er verrichtet Sommer wie Winter in Filzschuhen und mit dem Tragkorb auf dem Rücken seine Besorgungen und hat später in dieser fragwürdigen Ausrüstung einen etwas unrühmlichen Abgang genommen, um nach Amerika auszuwandern.

„Was haste de ofn Harzen?“ forscht sein Freund.

„Ich wollt dich ner frehng, ob de nocher ewing miet fischen gist“.

Der Andere ist natürlich einverstanden. Eine knappe halbe Stunde später rücken sie ab, und zwar noch vor dem Mittagessen. Ein paar Brotschnitten mit wenig Belag tun ihre Schuldigkeit. Man ist eben mit des Lebens Notdurft und Nahrung genügsamer wie heute der kleine Mann aus dem Volke.

Ihr Jagdgebiet ist der Pöhlbach jenseits des Pöhlberges. Die Lust am Umherschweifen und am Aufenthalt in der freien Natur ist bei ihnen größer als das Verlangen nach einer leckeren Mahlzeit. Und wer den Leßig Franz zum Weggenossen hat, braucht nicht vor Langeweile zu gähnen. Der weiß auf des Herrgotts Erde so gut Bescheid wie in den Klassikern, wie in der Pflanzenkunde und in der großen Politik, und Entfernungen von dem heimatlichen Grund und Boden spielen für die wandergeübten Männer keine Rolle.

Wie er wieder nach Hause kommt, findet er die Stubentür noch ebenso sperrangelweit offen, wie er sie verlassen hat. So hält er es immer, wenn er ausgeht. Diese Gepflogenheit gründet sich einesteils auf sein unerschütterliches Vertrauen in die Ehrlichkeit seiner Mitmenschen; seinem Freund Krieg Ludewig gegenüber, der ihm deshalb Vorhaltungen macht, weiß er noch einen anderen Grund ins Feld zu führen: „Wenn de Tir auf is, denkn de Leit, iech bi ner en Ahngnlick außen un komm gelei wieder, un do mausen se nischt“. „Hast a wieder racht“, muß Ludwig angesichts dieser feinen Diplomatie bekennen.

Und wirklich, das wohlgefüllte Geldkörbchen, auf das es begehrliche Hände in erster Linie angesehen hätten, steht unberührt an seinem Platz. —

Auf dem einzigen Sitzplätzchen der Wohnung aber hat sich eine junge Frau niedergelassen, die auf dem Schoße ein Bündel hält. Ihre feuchten Augen lassen Herrn Leßig auch gleich erraten, wo sie der Schuh drückt. Und sie rückt auch ohne Umschweife mit der Sprache heraus: Geld braucht sie, und zwar ganz dringend, denn der Tischler, der die Möbel für die Ausstattung geliefert, will nicht länger warten, und sie will ihr Brautkleid, das sie gleich mitgebracht, als Pfand dalassen. Für den Mann mit dem guten Herzen gibt es kein Besinnen. Er händigt ihr mit tröstenden Worten die gewünschten 50 Mark aus.

Ein Vierteljahr später hat dieselbe Frau ein neues Anliegen. Am Sonntage wäre Kindtaufe, ob er ihr für diese Tag nicht das Kleid leihen wolle. Es braucht wohl kaum noch berichtet werden, daß der Allzugute weder Frau, noch Kleid, noch Geld je wiedergesehen hat.

Wie die Frau mit schwerem Beutel und leichtem Herzen das Haus hinter sich hat, trägt Marie das verspätete Mittagessen auf: einen Topf Kaffee und die üblichen Brotschnitten, die nicht das erstemal den Mittagsbraten ersetzen müssen. —

Nicht lange danach ist er mit Handwagen, Sack und Hacke unterwegs nach seinem Felde hoch oben am Schmiedfelsen. Er will Kartoffeln ausnehmen. Im Frühjahr! Das bringt nur ein Leßig Franz fertig. Im verflossenen Herbst, als alle Leute ihre Kartoffeln bereits unter Dach und Fach hatten, überraschte ihn der vorzeitige Winter.

„Bei dar Kält stell‘ ich miech net naus“, erklärt er, „hol ich mrsche ahm in Friehgahr. Zu de Kasklößle sei se allemol gut, un wenn se drfrorn sei, schmecken se sieß. Do spart mr ne Zucker.“

Im Herbst hat er wiederholt die Wahrnehmung machen müssen, daß ihm Kartoffeln gestohlen werden. Er zieht deshalb selbst des Nachts auf Kartoffelwache. Um nicht zu frieren, hüllt er sich in seinen Schlafrock, an dessen Leibschnur er einen Reitersäbel befestigt. Er will beileibe niemand wehe tun, sondern die Diebe nur einschüchtern.

Und wie er sich nicht entschließen kann, seine Kartoffeln rechtzeitig auszunehmen, so geht es ihm auch mit dem Weißen seiner Wohnung. Der Kalkeimer steht bereits 2 Jahre in der Stube, und daneben liegt das nötige Handwerkszeug.

Dieselbe Bewandtnis hat es auch mit dem Abschlußstein über der Haustür. Als er nach dem Großfeuer vom Jahre 1852 sein Haus hatte neu errichten lassen, ließ er den besagten Stein nicht behauen. Er wollte dies selbst tun, denn auch darauf versteht er sich. Aber siehe an, wie der junge Theodor Preuß 1870 heiratet und sein Nachbar wird, kann sich der Stein noch immer jungfräulicher Unberührtheit rühmen. „Alles Ding währt seine Zeit“, denkt eben auch Herr Leßig. —

Wie er vom Felde zurückkehrt und die Kartoffeln seiner Haushälterin übergibt, bezweifelt diese stark, ob mit dem matschigen Zeug etwas anzufangen ist. Er überläßt die Entscheidung hierüber ruhig seiner Marie, begibt sich in die Stube, macht einen Teil des Tisches und einen Stuhl frei, legt Notenpapier, Tinte und Feder zurecht und schreibt dann eifrig die Stimme eines Männerchorliedes heraus. Er bedient sich dabei noch des Federkiels, aber zierlich sitzen die Notenköpfe auf dem Papier, und sauber setzt er den Text darunter. Bis zum Abend muß die Arbeit beendet sein, denn heute ist ja Singstunde in seiner Wohnung. Jawohl, in seiner Wohnung! Er schafft, wenn es sein muß, Platz für 10 Mann. —

Mitten in der Arbeit wird er unterbrochen. „Handwägler“ aus Crottendorf halten vor dem Hause und fragen an, ob er ihnen nicht einen Wagen Holz abkaufen will. Natürlich tut er das, obwohl im Hofe bereits ein mächtiger Holzstoß fein geschichtet steht, denn Leute, die des geringen Verdienstes willen den weiten Weg nicht scheuen, muß man unterstützen. Er zahlt auch sogleich und gibt den Männern auf, das Holz durch die Hausflur nach dem Hof zu schaffen, damit er ungestört weiter arbeiten kann. Wie die Handwägler fort sind, kommt Marie entsetzt ins Zimmer gestürzt und meldet, daß im Gewölbe 4 Stücke Butter fehlen.

Das ist Herrn Leßig denn doch zu arg, und schon sieht man ihn auf der Spur des flüchtenden Diebsvolkes seine schnellste Gangart nehmen. Kurz vor dem Friedhof klopft er beim Langer Emil an die Fensterscheiben.

„Hatt’r net ne Petzold aus Crutendorf de Stroß hinner machen sah?“

Sie haben gerade die letzten Minuten nicht Obacht auf die Straße gehabt. Da bittet er Emil, mit ihm zu kommen. Sie wollen getrennt marschieren, um vereint zufassen zu können. Er selbst wählt den Waldweg diesseits des Baches, während Emil die Sehmaer Straße einschlägt. Der junge Bursche ist noch nicht weit gegangen, da sieht er die Männer am Waldrande lagern. Er tut, als gehen sie ihn nichts an, läuft weiter und gibt dem Bestohlenen das verabredete Zeichen mit dem Schnupftuch. Mit gewaltigem Sprunge setzt jener über den Bach und klettert wie ein Eichhörnchen die Böschung hinan. Dann stellen sie die Diebe, und der erboste Herr Leßig hält ihnen eine furchtbare Standrede.

„Su is schie racht. Das ho iech for meiner Gutmietigket. Holz ho iech genung und sot, odr weil’r miech dauert, namm iech eich dan ganzen Wohng voller o, un ihr bemaust miech drfier. Of dr Stell rickt’r de Butter wieder raus, un dan do“ — damit zeigt er auf Emil — „zohlt’r zr Strof ene Mark, daß’r sein Vater nischt verroten tut, denn dar is Wachmester!“

Ohne Widerstreben langt einer der Männer in einen Holzsack und gibt die 4 Stücke Butter, die in Staub- und Holzteilchen eingehüllt sind, zurück, denn bei der Eile des Diebsgeschäftes konnte man sie nicht erst in Papier einschlagen. Er mindert die an Emil zu zahlende Strafsumme auf 50 Pfennige herab. So übt Herr Leßig höchst eigenhändig Justiz.

Und wieder ist er daheim. Er hat noch Zeit bis zum Beginn der Singstunde, und diese Zeit muß genützt werden. Er gibt den Arbeiten und Beschäftigungen, die in der Richtung seiner Neigungen und Liebhabereien liegen, den Vorzug und versäumt dabei allzuoft wichtige Geschäfte.

Er bemerkt, daß ein Kanarienweibchen Eier gelegt hat, und sogleich macht er sich daran, diese auf ihren Brutwert hin zu prüfen. Er läßt ein Ei nach dem anderen in ein Glas mit Wasser fallen, errechnet am spezifischen Gewichte des einzelnen Eies das künftige Brutresultat und schließt taube Eier vom Brutgeschäfte aus.

Dann schnitzt er noch Blumenstäbe für seine Fuchsien und bastelt an kleinen Holzkästchen für die Fläschchen mit Leßigtropfen, die er mit diesen unberechnet abgibt. —

Er hat sein Abendbrot noch nicht beendet, da treten auch schon die ersten Sänger ein: Der Boschert Martin, der Langer Emil, der Roscher Hermann, der Altmann Karl und der Keil Oskar, und die übrigen kommen nicht viel später, denn Herr Leßig ist gewohnt, pünktlich zu beginnen.

In die Stadtverordnetensitzungen kommt er selbst aber oft zu spät und schimpft dann, wenn eine Vorlage ohne ihn beraten worden ist.

Die Sänger sind also da. Nun heißt’s Platz schaffen. Niemand darf etwas anrühren. Herr Leßig übernimmt die Aufräumungsarbeiten selbst und findet für den Wust auf dem Tische immer noch ein Plätzchen irgendwo in der Stube. Nun werden Stühle herbeigeschafft. Die Uebung kann beginnen.

Der kleine Verein verfügt über stimmkräftiges Material, denn Herr Leßig nimmt nicht jeden auf. Er ist selbst ein trefflicher Sänger und singt jede Stimme vor. Wohl könnte er sich beim Einüben seines Flügels bedienen, doch den hat er vor Jahren auseinandergenommen und keine Zeit gefunden, ihn wieder in gebrauchsfähigen Zustand zu setzen.

Wenn eine Liedweise ertönt, dann fallen die Kanarienhähne mit ein, und Vorübergehende lauschen dem seltsamen, aber schönen Doppelkonzert.

Herr Leßig hat ein Lieblingslied, das merkwürdigerweise ein Liebeslied ist und dessen erster Vers lautet: „Ach, Mädel, ich sag dir’s, ach, Mädel, ich klag dir’s, ich liebe dich sehr. Und wenn du auch mich nicht liebst und mir den Abschied gibst, lieb ich dich mehr und mehr.“

Beim Absingen dieses Liedes schwelgt der alte Junggeselle mit Entzücken in Bildern der Erinnerung. Auch selbst vertonte eigene Dichtungen seines Liedermeisters bringt der kleine Chor zu Gehör.

Wenn sich während der Uebungen der berühmte Sängerdurst einstellt, so müssen die trockenen Kehlen mit Wasser genetzt werden. Etwas anderes gibt es beim Leßig Franz nicht. Er ist kein Biertrinker, man trifft ihn höchst selten in einem Wirtshaus.

Aus der kleinen Sängervereinigung ist die „Concordia“ hervorgegangen, die später zur „Harmonie“ übertrat.

Gesang-Verein „Concordia“ Buchholz, v. Jahre 1889.
Erste Reihe oben: Paul Werner, Emil Graupner †, Paul Sühnel, Emil Hofmann, Richard Böttger, Herm. Roscher Zweite Reihe: Herm. Oeser †, Karl Schubert, Martin Küchler †, Wilh. Mitte, Emil Langer, Martin Boschert, Karl Schmidt † Dritte Reihe: Moritz Frank, Wilh. Siegel †, Herm. Schmidt †, Anton Hinkel †, Theod. Jahn, Rich. Wöllner

Herr Leßig ist auch Gründer und Dirigent der „Lantande“, die nebenan bei Maurer Süß ihr Uebungslokal hat, und im „Orpheus“ zu Annaberg zählt er zu den gefeiertsten Sängern.

Außerdem ist er an der Sonntagsschule tätig, wo er unentgeltlich Zeichenunterricht erteilt. Daneben leitet er die Posamentierschule, an der neben ihm August Preuß und Karl Hinkel wirken. —

Der nächste Tag ist ein Sonntag. Als die Kirchenglocken läuten, ist Herr Leßig mit der „Lantane“ auf dem Marsche zum Sängerfeste in Schwarzenberg.

Am Nachmittage meint ein Sangesbruder: „Franz, ich gelab, mr krieng heit noch e Gewitter.“

„Das ho ich schie lang weis kriegt“, pflichtet dieser bei. „Mir is ner im meine Fuchsienstöckle, die draußen stinne.“

Und als die „Lantane“ mit ihrem Einzelchor an der Reihe ist, fehlt der Liedermeister. Man muß notgedrungen die Nummer vom Programm absetzen.

Nach reichlich 3 Stunden ist der Vermißte schweißtriefend wieder zur Stelle. Er ist daheim gewesen und hat seine Fuchsienstöcke hereingenommen, damit sie bei dem drohenden Gewittersturm nicht Schaden leiden. Der Zug braucht heute für die Strecke Buchholz—Schwarzenberg 1 ½ Stunde. Franz Leßig ist also mit Zugsgeschwindigkeit — natürlich immer querfeldein — hin und her gestürmt. —

So reiht sich in seinem Leben, das reich ist an Absonderlichkeiten, ein Tag an den andern.

Jahre vergehen. Als man 1876 den neuen Kirchturm baut und dabei ist, auf den 4 Doppelsäulen über dem Raum für das Uhrwerk den hochaufstrebenden Turmkegel zu errichten, da erfaßt den alternden Mann ein Grausen. Er sieht den Tag kommen, da der erste Sturm das Bauwerk umknickt wie einen Roggenhalm. Tagtäglich hat er das gefährliche Wagnis vor Augen, denn das Gotteshaus befindet sich oberhalb der Neugasse, also in unmittelbarer Nähe seiner Wohnung. Zu allen Bekannten äußert er seine Besorgnis und wird bei allen maßgebenden Stellen, sogar bei der Kreishauptmannschaft vorstellig. Da erweist man ihm die Liebe, ein Sachverständigengutachten einzuholen, das ihm schließlich den Frieden seiner Seele wiedergibt.

Die letzten Jahre seines Lebens zeigen ihn im Zustande sichtlichen Verfalles. Er geht gebückt einher, leidet an Schwerhörigkeit und vernachlässigt seinen äußeren Menschen immer mehr. Unter irgendeinem Vorwande besuchen ihn Leute, die in sträflicher Neugier den grauenhaften Zustand seiner Wohnung in Augenschein nehmen wollen. Herr Hellweg, einer der geachtetsten Bürger der Stadt, der Herrn Leßig schätzt, will ihn von sachkundiger Hand baden und reinigen lassen.

„Lassen Se’s ner, Herr Hellweg, ich ka’s Wasser net gut vertrohng“, ist die abschlägige Antwort.

Seine Abneigung gegen Wasser geht allgemach so weit, daß er es nicht leiden will, wenn Hausbewohner die Treppe scheuern. Um leerstehende Räume seines Hauses, dem auch Oberlehrer Freitag einstmals als Mieter angehörte, zerreißt sich deshalb niemand. —

Aber noch immer braucht er keinen Boten. Alle Besorgungen erledigt er selbst. Sind seine Tropfen ausverkauft und ist die neue Sendung aus Holland noch nicht da, so deckt er sich mit einem kleinen Vorrat ein, den er aus Wolkenstein holt, wo dasselbe Heilmittel zu haben ist.

Als er einmal von einem Sängerfest in Schneeberg auf dem Heimwege ist, sieht er unweit der alten Bergstadt am Fenster eines Hauses einen blühenden Kaktus, der es ihm so angetan hat, daß er am nächsten Tage den nochmaligen Marsch nicht scheut, um die seltene Pflanze käuflich zu erwerben. Ohne die geringste Spur von Müdigkeit langt er zu Hause an.

Ein Junge erwartet ihn, der Zwirn kaufen will. Es ist aber keiner da. Er heißt den kleinen Kunden niedersetzen, einen „Augenblick“ warten und läuft nach Geyer, um neue Ware zu holen. Geduldig wartet das Kind, bis Leßig Franz wieder zurück ist.

Auf allen Gängen begleitet ihn sein schwarzer Pudel, der mit Vorliebe die besten Bissen von dem gedeckten Tische anderer Leute holt, wie dies z. B. bei Schlosser Leibelt geschehen ist. —

Der Unermüdliche bearbeitet noch immer sein Feld selbst und macht neue Teile urbar. dabei ereilt ihn das Verhängnis. Ein großer Stein, den er herauswuchten will, prallt zurück und zerquetscht ihm den Goldfinger der linken Hand. Er eilt heim, schneidet mit verrostetem Messer das verstümmelte Glied vollends ab und tunkt den blutigen Stumpf in die berühmten Leßigtropfen, die ihm und seinen Mitmenschen so oft Linderung und Heilung von Schmerzen aller Art gebracht. Doch diesmal versagen sie in ihrer Wirkung. Die Hand entzündet sich und schwillt an. Von wildem Schmerze gefoltert und fast um den Verstand gebracht, sinkt er auf einer Fußbank neben dem Ofen zusammen. Eine Träne rollt über das bartlose Gesicht.

So finden ihn am Abend seine Sangesbrüder, die zur Singstunde kommen wollen. Statt einer Antwort auf die teilehmende Frage, was denn geschehen sei, weist er nur nach dem Tisch, auf dem der fehlende Finger liegt. Der Bedauernswerte lehnt jede Hilfeleistung entschieden ab. Er ist trotz der brennenden Schmerzen der festen Ueberzeugung, daß es außer den Leßigtropfen keine Rettung gibt, und es ist eine eigenartige, schwere Tragik, daß sie dazu beigetragen haben, ihm einen qualvollen Tod zu bringen.

Neben der Luthereiche bettete man ihn zur letzten Ruhe, beweint und betrauert von allen, die ihm nahestanden.

Der wohlhabende Mann ist in Armut, ja sogar mit Hinterlassung von Schulden gestorben. Er hatte die Unvorsichtigkeit begangen, sich seines Besitzes durch vorzeitige Erbteilung zu entäußern.

Wie seltsam rollte doch dieser Lebensfaden ab! Drängt sich da nicht die Frage auf: Wie würde sich der Lebensgang dieses Mannes an der Seite einer Hausfrau gestaltet haben, wenn diese für seine Eigenheiten Verständnis gezeigt hätte? Wahrscheinlich wäre er ein Bürger von untadelhaftem Ruf geworden, und sein Leben hätte nicht den tragischen Ausgang genommen.

*) Nach Mitteilungen der Herren Stadtrat Preuß, Emil Langer, Schulhausmann Ludwig, Frau Emilie Köhler u. a.

Erzgebirgische Heimatblätter Nr. 8 – Sonntag, den 19. Februar 1928, S. 1 – 4.