Teuerung und Hungersnot im Erzgebirge 1771 und 1772.

Auch bei dem besten Ertrage der Felder unseres Erzgebirges ist derselbe nie zur Ernährung der dichten Bevölkerung hinreichend. Wir sind bei dem Getreideeinkauf auf die Niederungen angewiesen, mit deren Bewohnern wir gegen unsere Industrieerzeugnisse Brot eintauschen. Jetzt umsoannt das Eisenbahnnetz den ganzen Erdteil, aus den entferntesten Gegenden kann mit Leichtigkeit Getreide herbeigeschafft werden. Wie war es aber früher, als es noch keine Bahnen gab, die Straßen noch nicht im besten Zustande waren und oft der verschneite Hohlweg den Verkehr auf Tage, ja auf Wochen hinaus hemmte? Auch in den Zeiten vor den Eisenbahnen mußte das Gereide drunten im Niederlande gekauft oder aus den gesegneten Gefilden des nahen Böhmerlandes herbeigeschafft werden. Der Haupthandelsplatz war die Stadt Zwickau, hierher brachte der Altenburger Bauer sein Korn, der Müller und Bäcker aus dem Gebirge kaufte da ein. Wenn aber auch in den Niederungen Mißernte eingetreten war, wenn Böhmen die Grenzen sperrte und kein Getreide hereinließ, dann pochte die drückende Sorge um das tägliche Brot an die Pforten der Wohnungen der sonst so frohgesinnten Gebirgsbewohner, dann trat wohl eine Hungersnot ein, wie sie die Altvordern in den Jahren 1771 und 1772 erlebt haben.

Schon im Frühjahre 1770, als ein später Schneefall den Wintersaaten großen Schaden zufügte und darauf anhaltendes Regenwetter folgte, begann eine allgemeine Besorgnis um die Zukunft sich der Gemüter zu bemächtigen; sie bestätigte sich in den seit Johannis von Woche zu Woche steigenden Getreidepreisen und in einer Mißernte, die sich nicht bloß über das Erzgebirge, nicht bloß über Sachsen, sondern über die fruchtreichsten Gegenden Deutschlands erstreckte. War die Bedrängnis schon groß, welche dadurch für die dichte Bevölkerung unseres Obererzgebirges herbeigeführt wurde, so mußte sie sich zur höchsten Not steigern, als im nächsten Jahre der späte Schneefall und die regnerische Witterung sich wiederholte. Die Felder boten den düstersten Anblick, sie waren von den Eigentümern entweder mit selbst erbautem geringen oder teuer erkauftem Samen möglichst dünn bestreut, oder aus Mangel an solchem gar nicht besät, und die Kartoffelsaat war hier und da von den Armen wieder aufgewült. So ließ sich das Schlimmste befürchten, eine nochmalige Mißernte. Und sie trat ein! – trat zu einer Zeit ein, als auch die anderen Nahrungsquellen bei der herrschenden Gewerblosigkeit versiegten und alle Zufuhren aus Sachsens Kornkammern, aus Böhmen und Altenburg gehemmt waren. Da entrollte sich endlich vollständig das Bild der furchtbarsten Hungersnot, die je erlebt worden war. Man sah ganze Scharen von Bettlern umherziehen, darunter Greise, die von ihren Angehörigen nicht mehr ernährt, fremde Unterstützung suchen mußten, Jünglinge, die sonst kräftig und blühend, jetzt halb verschmachtet, mehr durch ihren Anblick, als durch Worte sich Mitleid erflehten; Männer, die nach Verkauf des letzten, was sie hatten, selbst ihrer Werkzeuge, an den Bettelstab gebracht waren, viele, die bisher in Wohlstand gelebt, jetzt mit bitteren Tränen anderer Milde ansprechen mußten. – Man sah Scharen von Kindern, die, von Eltern hilflos gelassen, Brot aus reicheren Händen zur Stillung ihres Hungers zu erlangen suchten. Die Zahl der Bettler war so groß, daß, wie z. B. Pastor Oesfeld aus Lößnitz versichert, an einem Tage oft mehr als 400 vor den Türen die Mildtätigkeit in Anspruch nahmen.

Der Kornpreis war vom Frühjahr 1770 bis dahin 1772 von 1 Thlr. 4 Ggr. auf 14 Thlr. gestiegen. Wie vielen Familien mochte es da unmöglich geworden sein, das tägliche Brot zu kaufen. So nahm man seine Zuflucht selbst zu den unnatürlichsten Nahrungsmitteln: die gröbsten Kleien, unreife Waldbeeren, gekochtes Gras, zerriebene Baumrinde als Mehl und dergleichen mehr mußte zur Stillung des peinigenden Hungers dienen.

Die unausbleiblichen Folgen waren bösartige, ansteckende Fieber, die allenthalben die Opfer des Todes im Jahre 1772 ins Unglaubliche vermehrten. In Annaberg zählte man deren im erwähnten Jahre 490, während nur 89 Kinder geboren wurden. Auf der Scheerbank starb im Februar innerhalb vierzehn Tagen ein Haus, welches von 9 Personen bewohnt war, ganz aus. Nach einer Angabe des Geyerschen Rates hatte man am 19. Mai schon 192 Leichen, darunter 50 Hausbesitzer. In Ehrenfriedersdorf konnte man keine Bretter mehr auffinden zu Särgen für die Verstorbenen. Im Quartalbuch der Fleischer in derselben Stadt heißt es vom Jahre 1773: „Das ehrsame Handwerk ist so in Verfall gekommen, daß keiner imstande gewesen ist, etwas zu schlachten. Das liebe Brot mußte mit Einteilung gegessen werden. Es sind in diesem Jahre 585 Personen gestorben.“ Die meisten Bewohner waren vom Hunger völlig abgemattet. Manche sanken auf offener Straße um und blieben tot. Wie es in solcher Zeit um die Ernährung und Pflege der Kinder im Hause und ihrer Sittlichkeit außer demselben stand, kann man leicht vermuten.

Das 49. Stück des Dresdner gelehrten Anzeigers vom Jahre 1772 schreibt: Hier ist ein Auszug aus einem Briefe eines sicheren Mannes, der am 4. September die Gegend nach Johanngeorgenstadt zu durchreist hat: Ich habe das Elend in Breitenbrunn, Rittersgrün, Wiesenthal, Crottendorf, Pöhla, Wildenthal, Eibenstock und Neudorf gesehen. Nie wünsche ich mir und keinem andern, einen so traurigen Anblick wieder zu erleben. Schon auf der Reise fand ich nicht wenige unbesäet gebliebene, zum Teil schon zur Aussaat aufgerissene Felder: auf diesen nichts als etwas Gras, das kaum zur Hutweide nutzen kann. Auf den Wiesen noch vieles Heu, das nicht hatte eingebracht werden können und nun verderben mußte, weil das Zugvieh und die erforderlichen Kosten gemangelt hatten, oder wo der Hauswirt krank oder gar gestorben war und ein Haus voll hilfloser Waisen hinterlassen hatte; die Feldfrüchte, die nur in wenig Roggen, meist in Hafer bestunden, gar dünn und noch hin und wieder grün wie Gras, und bei den schon einfallenden kalten Nächten nicht viel Hoffnung zu ihrer Reife bestand. Die im Vergleich mit andern Jahren wenig eingelegten Erdäpfel waren schon großenteils ausgegraben und halb unreif verzehrt; die noch in der Erde liegenden der Dieberei ausgesetzt, und auf allen Fall nur ein Vorrat auf einige Wochen. Das innere Elend der Orte wage ich mich gar nicht zu schildern. Traurig war es von vielen sogenannten Halb- und Viertelgutsbesitzern zu hören, daß sie nicht eine Hand voll Samen ausgesäet hätten, daß ihr Rindvieh größtenteils verstoßen und die wenigen Pferde aus Mangel an Futter gefallen wären; noch viel trauriger, die meisten Einwohner nicht so notdürftig bekleidet, daß sie ihre Blöße bedecken konnten, ihre Wohnungen von allem Hausgerät, ihr Lager von Betten leer zu sehen. Kleider, Wäsche, Betten, Haus- und Handwerksgeräte hatten die meisten, so viele die eisernen Töpfe und blechernen Röhren aus den Oefen, die Schlösser von den Türen und ihre Aexte verstoßen und um ein Geringes verkaufen müssen, viele haben sogar die Fenster, die Ziegelsteine von den Feueressen etc. aus Not verkauft. Viele Häuser, die ausgestorben waren, sind von ihren Nachbarn eingerissen und das Holz verbrannt worden, um ihr und ihrer Kinder Leben auf einige Tage zu fristen. Handwerker und Gewerbetreibende hatten keinen Verdienst. Zu der schweren Arbeit in Eisenhämmern und Holzschlägen, welche sonst den Mannspersonen ihren Verdienst schaffen, jedoch jetzt auch liegen, sind sehr viele entkräftet. Oft müssen sie von der Arbeit wieder abgehen, oft davon hinweggetragen werden; ja einige sind tot dabei liegen geblieben. Ich habe Männer in ihren besten Jahren gesehen, die nicht imstande waren, das ihnen geschenkte Holz im Walde zu hauen und herein zu holen. Der Winter setzt die Männer außer allen Verdienst. Der Lohn bei den Fabriken, für welche die Weibspersonen und die Kinder arbeiten, reicht nicht zu, das Brot der arbeitenden Personen zu bezahlen, geschweige ganze Familien zu ernähren, Kranke zu erquicken, Kleider, Betten, Hausgeräte anzuschaffen. Ja, ich habe Klöpplerinnen gefunden, die der Hunger dumm und blind gemacht hatte; andere, die wegen zurückgebliebener Mattigkeit und blöden Gesichts wie die Kinder, wieder mit kleinen Zäckchen und schmalen Borten zu arbeiten anfangen mußten. Ich erstaunte über die Gelassenheit der vielen Elenden, die mir allenthalben entgegenkamen, aber selbst zu Kummer und Klagen schon zu empfindungslos, zum Teil auch schon sorglos für sich und die Ihrigen waren, weil sie, wie mir einige selbst sagten, sich auf den bevorstehenden Winter weder zu raten noch zu helfen wußten. Viele haben sich schon des Lebens begeben. Die Krankheiten hatten auch wieder sehr überhand genommen, vornehmlich durch den Genuß unreifer Erdfrüchte und durch die Erkältung wegen Mangels hinlänglicher Bedeckung am Tage sowohl, als besonders des Nachts. Die meisten Genesenden konnten sich wegen der schweren Kost nicht wieder erholen. – Mit Nahrungsmitteln, die im Niederlande zu dem notdürftigsten Unterhalte gehören, kann man hier Sterbende retten. Doch habe ich in Breitenbrunn etliche vor Hunger schon halb Verschmachtete gesehen, die keine Gabe mehr retten, sondern ihnen den Tod nur weniger peinlich machen konnte. Viele wissen über keine Krankheit noch Schmerz zu klagen, aber geschwollen, keuchend, ganz verschmachtet taumeln sie umher, vermutlich sind ihre Eingeweide zusammengeschrumpft. – Nur erst vor vierzehn Tagen hatte man in der Gegend von Eibenstock zwei Kinder, die in den Wald gegangen waren, um sogenannte Schwarzbeeren zu holen, auf der Straße aus Mattigkeit umgefallen und tot gefunden. Die fremden Almosen nehmen ab und die Kollekten jedes Ortes sind, wenn gleich diejenigen, die noch wohlhabend heißen, über ihr Vermögen tun, doch ein wenigers für so viele Arme, die sich täglich vermehren. Mancher, der noch vor etlichen Monaten Almosen gab, bittet jetzt um Almosen, und dadurch wächst die Zahl der Armen, so viel auch hinwegsterben, doch immer wieder so sehr, daß die an sich beträchtlichen Gnadengeschenke nur kleine Gaben werden. 150 Scheffel Korn mußten längst unter 12 800 Arme verteilt werden.

(Fortsetzung folgt.)

Erzgebirgische Heimatblätter Nr. 40 – Sonntag, den 16. Oktober 1927, S. 2