Städte erzgebirgischer Heimat (5)

Guido Wolf Günther.

(Fortsetzung.)

Sehma mit dem Bärenstein im Hintergrunde.

Cranzahl – Neudorf – Sehma.

Wem seid ihr wohl davongelaufen, ihr Dörfchen im Sehmatal? War euch der Vater Fichtelberg zu rauhbeinig oder haben etwa schwache Nerven den Trubel der St. Annen- und der St. Katharinenkirche nicht ertragen können? Sieht’s doch just so aus, als suchtet ihr euch vor Fichtelberg und den beiden Städten zu verstecken! Und freut euch doch herzlich, wenn das Eisenbähnle prustend und schnaufend winterfreudebedurftige Menschen an euren Häuslein vorbeischleppt und wenn – na, ich verrat’s lieber nicht, daß im Sehmatal so schöne Tanzmusik gemacht wird. – Nein, es ist nur flüchtiger Augenschein, der meinen läßt, ihr habt euch von der Welt abgeschlossen: mit beiden Enden reicht ihr lustig ins volle Leben hinein; im Süden tollt und scherzt ihr mit buntscheckigem Volk auf schneeglitzernden Breiten, und im Norden liefert ihr der fleißigen Hände Arbeit in immer wachsender Menge ab. Arbeit! Das ist der Herzschlag des ganzen Sehmatales; „Arbeit!“ murmelt jede Welle des Sehmabaches, die flink über die Steine hüpft. Goldenes Korn wogt euch nur spärlich, denn der nahe Fichtelberg ist kein Freund von Erntetanz und Herdengeläut; ihm klingt Schellengeläut lieblicher und brettelhüpfende Weiblein und Männlein ersetzen ihm den schönsten Erntereigen. So habt ihr Sehmatalsiedler euch bescheiden müssen und seid untergeschlüpft in zahlreicher Fabriken enges Gegitter. Die Sehma staunt verwundert, was ihr auf ihre alten Tage noch zugemutet wird; wie oft sie sich zwängen lassen muß in enge Betten, die Menschen unbarmherzig ihr bauten. Kannst stolz sein auf deinen Namen, fleißiges Sehma; er hat guten Klang über die Heimat hinaus und ist gleichsam Wappen und Schild der Schwesterdörfer mit. – Ob wohl in deinen Häusern, friedlich werkendes Cranzahl, am Sonntag Reminiscere jemand daran gedacht hat, daß man am Sonntag gleichen Namens des Jahres 1640 zwei brave Männer, von schwedischen Reitern ermordet, aus Böhmen nach der Heimat brachte? Kaspar Schmiedel und Jacob Gruner waren sie genannt und kamen durch unglückseligen Zufall in den Verdacht, auf die Horden des Generals Baner geschossen zu haben. Um ihr geraubtes Vieh den wüsten Gesellen wieder abzukaufen, liefen beide mit vielen anderen noch bis hinein nach Preßnitz und – ausgeplündert und erschlagen fanden Landsleute sie am Wege liegen. Reminiscere Domine – gedenke, o Herr! Hat es in deines Dorffriedens Stille je ein traurigeres Vor-Ostern gegeben, ehe der große Krieg kam und alle geschichtlichen Merktage in der Düsternis seines Geschehens untergehen ließ? – Auch du, waldumspieltes Neudorf, kannst genug erzählen von Kriegsgreuel. Bist du doch selbst erst entstanden, weil das Hussitenvolk ums Jahr 1430 dein Mutterdorf Kraxdorf in Grund und Boden brannte, und der Holzfäller findet wohl heute noch hier und da in der Gegend des Morgenberges nach Crottendorf zu wunderlich Gerät, das Rost und Moder zu gespenstischen Klumpen zusammenschweißten. Reminiscere! – Doch fort mit der Trübsal, die nichts bessert und alles schwerer tragen läßt! Pfiff da nicht eben vom Gipfel der alten Randfichte die Drossel? – Ja, schau doch! Im Walde drinn, da trillert auch einer! Und versteht sein Handwerk! Seine Flöte ist der Schürbaum, und dem das Konzert geblasen wird, ist der hochwohlgeborene Strauchdieb Ritter Kunz von Kauffungen, dem Sachsens Kurprinzen gerade recht schienen, hohes Lösegeld zu erpressen. Der wackere Köhler Schmidt hat ein artig Stücklein getrillert, und wenn Kunz blau und grün dabei geworden ist, so leuchten gewiß nicht das blauadlig‘ Blut durch die Haut! Wo aber die gute Tat geschah, durfte sich der wackere Triller ein Gasthaus bauen – damals Kretscham genannt, – und so steht noch heute das Kretscham-Rothensehma. Was kümmert’s uns, ob die Tat bei Neudorf geschah in der Nähe des alten Marmorbruches oder ob im Spiegelwald bei Grünhain? Wir haben jedenfalls fleißig uns zu mancher Stunde im „Trillern“ draußen geübt bei Vater Eberwein, und der Teich hat verschlafen aufgehorcht, wenn das junge Volk gar zu übermütig tollte.

Cranzahl.

Krächzend streicht ein Flug Krähen vom Habichtsberg herüber, um lärmend und raufend auf den abgetauten Feldern nach Futter zu suchen. Possierlich schauen die Schwarzröcke aus, die stelzbeinig hüpfend jede Scholle untersuchen, ob nicht ein Happen für den knurrenden Magen dahinter zu finden ist. Da hat eine einen fetten Engerling erbeutet, und mit tiefstreichendem Fluge zieht sie einem geköpften Eichenbaum zu, um in seiner Astgabelung einen Platz zu finden zum vergnüglichen Mahl. Nun sitz sie da und schluckt mit hochgehaltenem Kopfe den fetten Bissen hinab, feinschmeckerisch die blitzenden Augen verdrehend, während der ewig zerzauste Schwanz wippend für Gleichgewicht sorgt. Und denken wir uns zu diesem Bild in großem Kreis umrahmend die Worte „Gemeinde Cranzahl (Erzgebirge)“, so haben wir das Siegel- und Wappenbild! Denn die Namen Craenzahel, Craenzagill, Cranzagel, Cranzail, Cranenzahl und Cranzel, mit denen das Dorf Cranzahl verschiedentlich bezeichnet wurde, deuten alle auf die eine Abstammung hin: Krähenzagel. Und wenn wir erfahren, daß „Zagel“ soviel wie „Schwanz“ bedeutet im Althochdeutschen, dann ist der erst recht dunkeldeutige Name mit „Krähenschwanz“ deutlich erklärt. Aus einer Chronik vom Jahre 1884 (Pastor Schultze) geht hervor, daß Krähenplage zum „guten Ton“ unseres Dörfchens gehört habe, sodaß sogar Krähenhütten aufgestellt worden sind. So wäre das Ortssiegel wirklich ein feines, geschichtliches Sinnbild, was sich von vielen anderen nicht behaupten läßt. – Tiefspurig, jahrhunderte alt, zieht beim „Erbgericht“ vorüber ein alter Hohlweg. Spöttisch brummelt die junge Staatsstraße herüber, wenn flinke Autos auf ihr dahinflitzen und bildet sich einen großen Stiefel ein auf ihre Gepflegtheit und Sauberkeit. Sie sollte so stolz nicht tun, das junge Ding! Von ihr spricht im weiten Vaterland kaum einer; von  der alten Salz- und Paßstraße aber, von der der alte Hohlweg ein Stück darstellt, hat ganz Deutschland gewußt! Von Halle über Leipzig, Stollberg, Zwönitz, Elterlein herüber durchs alte Schlettau, auf der alten Schlettauer Straße entlang herein nach Cranzahl, beim „Berghäusel“ vorbei über Kühberg ging die alte Straße über die Grenze, um durch Weipert, Preßnitz, Reischdorf, Laun schließlich nach Prag zu führen. Ob nun Sorben zuerst am Passe sich ansiedelten, vielleicht von Schlettau aus, mit dem Cranzahl bis ins 16. Jahrhundert hinein kirchlich verbunden war, oder ob zuerst Deutsche als Paßwächter an der weißen Sehma sich niederließen, worauf eigentlich der Ortsnamen schließen läßt, ist nicht mit Sicherheit zu ermitteln, da beim Brande des Weigelt’schen Hauses 1859 alle Akten solchen Inhaltes verloren gingen. Jedenfalls wird schon im Jahre 1567 [1367] urkundlich Cranzahl erwähnt in dem Zusammenhange, daß es samt der „Pflege Schlettau“ den Herren von Schönburg auf Hassenstein (Böhmen) zugesprochen wird. 1413 kam der ganze obenerwähnte Besitz an die Abtei Grünhain, die mit einer ziemlichen Zähigkeit den irdischen Besitz politisch recht schlau festzuhalten wußte, bis eine neue Zeit den Kirchenherren die Sorge um solche Dinge hilfreich abnahm und sie lehrte, wieder mit jenseitigen Gütern sich zu begnügen. –

Mitten im fichtendunklen Miriquidi liegt ein Dörfel, das die Nachbarn verschieden benennen. Kraxberg nennen es die einen nach dem Bergrücken, den Kraxenträger verwünschen ob der vielen Schweißtropfen, die er fordert; Krachsberg necken es die anderen, weil im Waldtal der Donner und das Tosen niederstürzender Bäume im vielhallendem Echo gar nicht sich wieder herausfinden will. Schon seit etwa 1240 besteht der Ort an der alten Paßstraße. Die Bewohner sind dem Walde und seinen Schätzen dankbar, denn kärglich nur reift ihnen der Hafer auf den Talhängen und goldenes Korn nur in wenigen Sommern. – Da stürmt der Hussitenkrieg durch den Grenzwald! Entsetzlich Elend läßt er zurück: rauchende Trümmer und Menschenleichen! Kraxdorf ist nicht mehr! Ein paar glimmende Balken nur noch zeigen die Stätte friedlichen Lebens an, und tote Augen starren anklagend zum Himmel, racheflehend, heimatweh. – Ein halb Jahrhundert lang wuchern Gras und Schlinggewächs und Jungholz ungestört auf Herd und Mauer, und scheu beschleunigt der Waldgänger seine Schritte, wenn ihn der Weg an der Wüstenei vorüberführt. – Dann regt Jungvolk irgendwo die Schwingen und will fort aus der Heimat, die zu eng geworden ist. Und findet nichts dabei, an der Stelle der verwüsteten Siedelung ein neues Dorf zu bauen. Um 1470 gewiß stand schon ein gut Teil der Häuser des Neudorfes, und nur der „Kraftsberg“ erinnert heute noch in veränderter Form an den Namen der alten Siedlung, die 1427 in Flammen aufging. –

Knarrend quälen sich schwerrädrige Wagen bergwärts; schnaufend wittern die Frankengäule frisches, fließendes Wasser und legen sich noch einmal fest in die Stränge, um bald zu Wasser und zur Ruhe zu kommen. Weither kommen die Männer und Frauen, die mit Aexten und Spaten auf den Schultern die Wagen begleiten. Fränkische Siedler sind es, die hier im Miriquidi eine neue Heimat suchen den Slaven zum Trotz, die wohl vor ihnen hier und da schon ihre Siedelungen ins Gebirge vorschoben.

Bis zur Burg Sletin (Schlettau) waren die Franken im großen Trupp gewandert; nun waren sie sippenweis ins Tal der Zschopau und in dieses Tal vorgedrungen, um neue Rodungen zu schlagen und Bollwerke zu bauen gegen wendische Rachegelüste. – Lockend tut sich jetzt die Flußaue vor ihnen auf; aber o weh, das klare Wasser ist an beiden Ufern breit gesäumt von dichtem Röhricht, und nur schmale Pfade zeigen den Weg, den sich das Wild zur Tränke brach. „Semde alse!“ Wer Wer rief es aus der Schar der Franken? Das Wort, das dem Fluß und dieser Siedlung den Namen gab? (Althochdeutsch semde = die Binse, alse = das Wasser, der Fluß.) Der „Binsenfluß“ behielt seinen Namen, aus dem schließlich Sehma wurde, auch noch, als längst die Ufer freundlich besiedelt das flinke Kind des Fichtelberges zwischen sich faßten und andere Muttersprache mit den murmelnden Wellen um die Wette plauderte. –

Die Meinung, daß Sehma die Gründung eines Simon sei, darf angezweifelt werden und ist durch keine Urkunde zu belegen. Bestimmt aber schaut Sehma auf ein ehrwürdiges Alter zurück und mag wohl mit Crottendorf gleichen Alters sein. Die zwei gekreuzten Sensenklingen des Ortswappens, das bereits 1719 geführt wurde, können ganz gut in Zusammenhang gebracht werden mit der gewiß reichen Heuernte in der Flußaue, können aber auch hinweisen auf das alljährlich notwendige Abhauen der Binsen, um das Versumpfen des Flusses zu verhüten.

Cunersdorf.

Ein springendes Pferd, darunter eine Pflugschar: das ist das alte Gerichtssiegel von Cunersdorf. Mit der Gründung und dem Namen hat offenbar dies Siegelbild nichts zu tun; die vom Kloster Grünhain abgeordneten Erblehnrichter brachten dieses Siegel mit und es blieb auch, als 1485 das Dorf dem Kurfürsten Ernst zuviel. (Noch heute sieht man am Wege Katzenmühle – Himmlisch Heer – Staatsstraße alte Grenzsteine!) Die Entstehung Cunersdorfs hängt wohl mit der Nähe des alten Passes zusammen und wird nicht Bergleuten zuzuschreiben sein, die wohl schon eine Siedelung vorfanden.

Daß einzelne Kiefern dem Orte seinen Namen gegeben haben (sorbisch: koinza = die Kiefer) möchte bezweifelt werden; geschichtlich einleuchtender ist folgende Gründungssage:

Auf dem Sommerstein (jetzt Singerstein) bei Hermannsdorf lebte der Ritter Hermann. Seinen drei Söhnen wurde die väterliche Burg zu eng, und so siedelten sie sich unweit des Vaters an: Walter gründete Walthersdorf, Simon soll Sehma den Namen gegeben haben (?) und Konrad, – auch Kuno genannt, – ließ Cunersdorf entstehen. Setzen wir an Stelle der Rittersöhne deutsche Ansiedlerbauern, die von Otto I. und seinen Nachfolgern als Schutz gegen die Slaven weit hinauf ins Gebirge geschickt wurden, so haben wir eine befriedigende Erklärung für Konradsdorf bezw. Cunersdorf.

(Fortsetzung folgt.)

Erzgebirgische Heimatblätter Nr. 22 – Sonntag, den 29. Mai 1927, S. 2