Scheibenberger Kriegserinnerungen.

Vor 60 Jahren.

Die Stadt Scheibenberg hat am 3. und 4. Juli d. J. ihr eigenartiges Ehrenmal für ihre gefallenen Helden und Opfer des Weltkrieges geweiht. Wohl unbeabsichtigt, aber deswegen nicht minder bedeutungsvoll, geschah es an ernsten Erinnerungstagen der großen Weltgeschichte; denn am 3. Juli waren bekanntlich 60 Jahre seit der denkwürdigen Schlacht bei Königgrätz verflossen, deren günstige Nachwirkungen sich bis in unsere Zeit erstrecken. Im ursprünglichen Volksbewußtsein sind jene Ereignisse schon fast völlig verblaßt, und damit gehen die Erinnerungen der einzelnen Orte daran, wie sie an den bedeutungsvollen Geschehnissen beteiligt waren, verloren. Das ist tief bedauerlich; denn dann kann die nächste und bei jeder tieferen Behandlung früherer Zeiten unabweisbare Frage: „Wie war es damals in unserem Orte, was geschah hier, was leisteten hiesige Einwohner?“ nur ganz kümmerlich oder gar nicht beantwortet werden. Es ist darum wohl nicht wertlos, für Scheibenberg Erinnerungen aus dem Jahre 1866 festzuhalten, ehe sie ganz dem Vergessen anheimfallen.

In Sachsen, das vor 1866 in militärischen Dingen noch selbständig war, bestand damals in gewissem Sinne die allgemeine Wehrpflicht. Darum mußten die 20jährigen jungen Männer von Scheibenberg zur militärischen Musterung gehen, seit 1862 nach Annaberg, vorher nach Schwarzenberg. Die als tauglich Befundenen hatten nun eine 6jährige Dienstzeit durchzumachen, doch waren sie gewöhnlich nicht die vollen 6 Jahre in der Garnison, sondern jedes Jahr nur eine gewisse Zeit, die immer kürzer wurde, und zuerst 5-6 Monate umfaßte. Wohlhabende Taugliche konnten sich für mehrere hundert Taler loskaufen oder einen Ersatzmann stellen. Von dieser Befreiungsgelegenheit machten auch junge Scheibenberger Gebrauch. Garnisonen waren nicht nur die größeren Städte unseres Landes, sondern z. B. auch Schneeberg sowie Marienberg, wo namentlich zahlreiche Scheibenberger ihre militärische Ausbildung erhielten.

Wie unsicher damals die politische Lage erschien, erhellt daraus, daß die daheim weilenden Soldaten schon im April, also 2 Monate vor Kriegsausbruch, den Befehl zum Eintreffen erhielten. Die genaue Zahl der am Kriege beteiligten Scheibenberger ist uns nicht bekannt, es dürften 15 oder mehr gewesen sein. Genannt werden: Wilhelm und Bernhard Greifenhagen, der spätere Stadtwachtmeister, Robert Zöbisch, später hier Briefträger, Karl Unger, Ernst Flemig, Eduard Flemig, genannt Blücher, Karl Viertel, Hermann Kaufmann, Karl Hüller und Noack, die wohl meist bei der „Linie“, beim Linienregiment in Marienberg, ausgebildet waren und zu den Grenadieren gehörten. Emil Fiedler aus Oberscheibe wurde nach Schneeberg eingezogen, Karl Oeser, genannt Major, und August Poppe aus Buchholz nach Bautzen. Unser einziger noch lebender Veteran jenes Krieges, Herr Anton Loos aus Annaberg, wurde nach Leipzig befohlen. Karl Zöbisch, der älteste Bruder des vorgenannten Robert Z. und unseres Herrn Landwirtes Adolf Zöbisch, stand schon lange in Chemnitz. Der damalige Scheibenberger Arzt, Dr. Müller, zog als Stabsarzt auch mit nach Böhmen.

Die Erinnerung an ihre Kriegserlebnisse haben diese Männer meist mit in ihr Grab genommen. Was uns jedoch davon bekanntgeworden ist, wollen wir hier erzählen.

Karl Zöbisch, gleichalterig mit unserem altehrwürdigen, noch rüstigen Herrn Karl Wolf, war schon mit 17 Jahren freiwillig zum Militär gegangen. Da er mit der Musik vertraut war, wurde er Signalist, später Obersignalist, und mußte als solcher in Rochlitz reiten lernen. Als er 6 Jahre gedient hatte, „kapitulierte“ er, d. h. er erklärte sich zu weiteren 6 Dienstjahren bereit, wofür ihm 300 Taler und nach vollendeter Dienstzeit eine Anstellung in Aussicht gestellt wurden. Wiederholt weilte er als schmucker Soldat auf Urlaub in seinem Elternhause, Schulstraße 6, öfters in Begleitung eines Freundes.

Als der Krieg ausbrach, war er Brigadesignalist bei General von Hake, dem Führer der 3. Infanterie-Brigade, die zur 1. Infanterie-Division gehörte. Ehe er ins Feld rückte, sandte er seinen Eltern seine goldene Uhrkette, einen Siegelring, sein Löhungsbuch, ein Abbild seiner peinlichen Ordnungsliebe, dazu andere Sachen und einen Brief, in dem u. a. der Satz stand: „Liebe Eltern und Geschwister, eine Ahnung sagt mir, daß ich nicht wieder zu Euch zurückkehren werde.“ Diese Stimmung scheint ihn auch beim Abschied von seiner lieben Braut in Chemnitz beseelt zu haben; denn nur schwer konnte er sich von ihr trennen. Doch die Wehmut wurde wohl bald von hoffnungsfreudigem Soldatengeist verdrängt, und so begab er sich frohen Mutes mit in die Gegend von Dresden, wo das sächsische Heer zusammengezogen wurde.

Herr Anton Loos trat wie Wilhelm Greifenhagen schon seinen zweiten Feldzug an; denn 1863/64 hatten sie unter dem gewandten Generalleutnant von Hake an jenem seltsamen, völlig zwecklosen Unternehmen der Sachsen und Hannoveraner, das vom Deutschen Bund im Gegensatz zur Bismarckschen Politik in Holstein ausgeführt wurde, teilgenommen. Bemerkenswert ist es, daß da unser Anton Loos auch in Wesselburen, dem Geburtsorte Friedrich Hebbels, auf Feldwache stand, kurze Zeit nach des großen Dichters Tod. Der neue Feldzug sollte viel ernster für ihn werden. Als fast 26jähriger traf er im April 1866 bei seinem Truppenteil in Leipzig ein. Von da ging es nach mehrwöchigem Aufenthalt in die Dresdner Gegend, wo auch alle anderen Scheibenberger Kriegsteilnehmer versammelt waren.

Schlag auf Schlag rollten sich die bedeutsamen politischen Ereignisse jener Wochen ab und nachdem am 15. Juni die Würfel für den Krieg gefallen waren, zog die sächsische Armee entsprechend den Vereinbarungen mit dem österreichischen Bundesgenossen nach Böhmen ab. Sie marschierte auf drei getrennten Straßen und überschritt in den Morgenstunden des 18. Juni die Landesgrenze. Auf der östlichsten Straße, Pirna-Berggießhübel-Nollendorf, zogen auch Anton Loos und August Poppe dahin und in Hellendorf, dem letzten sächsischen Orte, marschierten sie an ihrem Landesherrn, König Johann, vorüber.

Es sollten schwere Wochen werden, denen unsere Krieger entgegengingen. Das Wetter war ungünstig und regnerisch, fast wie in diesem Jahre. Dazu kamen bald bittere Enttäuschungen über die österreichische Heeresverwaltung, die z. B. für die Weiterbeförderung der sächsischen Truppen mit der Eisenbahn gar keine Vorkehrungen getroffen hatte, so daß unsere Braven nur auf ihre Beine angewiesen waren. Sie marschierten von Teplitz über Lobositz nach Jung-Bunzlau a. d. Iser. Zu den bisherigen Uebelständen sollten bald noch sich widersprechende und den Ereignissen nachhinkende Befehle kommen.

Am 29. Juni ging es weiter nach Osten, auf Gitschin zu, wo unsere Landsleute mit zwei österreichischen Korps den machtvoll vordringenden Prinzen Friedrich Karl aufhalten sollten. Der Regen war gewichen, dafür brannte die Sonne drückend heiß in den böhmischen Kessel hernieder. Gegen Mittag kamen die Sachsen westlich Gitschin an, wo sich auch der sächsische König und der Kronprinz befanden. Die Abteilung, bei der Anton Loos war, ließ sich in dem großen Garten eines Rittergutes nieder. Ganz ermattet von dem Marsch, entledigten sich die Soldaten des Gepäcks, dann der durchschwitzten Kleidungsstücke, um sich zu trocknen. Ihren brennenden Durst zu stillen, erhielten sie Bier, darauf durften sie einige Stunden der Ruhe pflegen.

Da ertönte gegen 4 Uhr nachmittags von Norden her Kanonendonner. Hier hatten die Preußen, die seit nachts 12, bezw. ½ 2 Uhr auf den Beinen waren, die Oesterreicher angegriffen. Sofort eilte Kronprinz Albert auf das Gefechtsfeld und setzte Teile seines Korps bei dem Dorfe Diletz ein, einem Brennpunkte des harten Kampfes. Hier kam auch Anton Loos, der bei der 1. Infanterie-Brigade beim 1. Jäger-Bataillon stand, zum erstenmals ins Feuer. Schon auf dem Anmarsch begegneten ihm Kolonnen österreichischer Verwundeter. Das war ein schweres Ringen. Die Preußen hatten den Ort im ersten Anlauf genommeb, wurden aber von der sächsischen Brigade wieder hinausgedrängt. Nun kam den Preußen die Artillerie zu Hilfe, und selbst die Oesterreicher beschossen versehentlich die sächsischen Jäger. Endlich brach die feindliche Infanterie mit Verstärkung wieder vor. Aber erst nach heißem Handgemenge konnte sie sich des Ortes bemächtigen. Hinter ihm tobte der Kampf, in den auch österreichische Reitertruppen eingriffen, weiter. Schließlich mußten die Sachsen unter empfindlichen Verlusten über den Bach zurückgehen, wobei ihr Oberst befahl: „Im Schritt, Leute, im Schritt!“ Nicht wenig mag zu diesem Erfolg der Preußen ihr Zündnadelgewehr beigetragen haben, während die Sachsen im Lorenzgewehr noch Vorderlader hatten wie die Oesterreicher, auch mußten sie ihre mit Papphüllen versehenen Patronen vor dem Laden erst mit den Zähnen zurechtrichten. Darum konnten damals junge Leute, die kein gutes Gebiß hatten, nicht bei der Infanterie eingestellt werden.

Die Stellung der Sachsen und Oesterreicher hätte sich trotz des bisherigen Gefechtsverlaufes im allgemeinen bis zum nächsten Tage, an dem Hilfe eintreffen sollte, halten lassen. Da erreichte den Kronprinzen ¼ 8 Uhr eine Depesche des Oberbefehlshabers Benedek, daß in diesem Abschnitt ein größeres Gefecht zu vermeiden sei, weil er seinen Plan habe ändern müssen, und diese Depesche war nachts 1 Uhr aufgestellt und erst am Nachmittag abgeschickt worden. So war also der blutige Kampf bei Gitschin zwecklos gewesen. Infolge des ½ 8 Uhr vom Kronprinzen erteilten Rückzugsbefehls setzten unsere Jäger ihren Rückmarsch fort über Gitschin hinaus. Bei einer Kirschenallee hielt Anton Loos‘ Abteilung zum Verlesen, da fehlten 14 Mann. Im nächsten Dorfe verteilten sich die Kämpfer in die einzelnen Güter. Doch wurden sie schon bald wieder alarmiert, weil es hieß, die Leibbrigade sei in Gitschin eingeschlossen, aber nach einer Stunde stellte sich die schlimme Nachricht als unrichtig heraus.

Welche Bewandtnis hatte es mit der Leibbrigade? Bei ihr standen z. B. August Poppe, Bernhard Greifenhagen und andere Scheibenberger. Noch frisch, deckte sie den Sachsen uns Oesterreichern den Rückzug. In Gitschin warf sie die von Westen eindringenden, vom Wassermangel getriebenen Preußen in der Dunkelheit wieder hinaus. Als sie aber bald Kunde von einem Umgehungsmanöver der von Norden kommenden Feinde erhielt, räumte sie rechtzeitig den Ort, nur gegen 300 Verwundete darin zurücklassend.

In den folgenden zwei Tagen marschierten die Kämpfer von Gitschin, zwar vom Feinde unbehindert, aber unter mancherlei anderen Beschwerden, nach Südosten, wo Benedek mit seiner versammelten Armee hinter der Bistriz eine Entscheidungsschlacht annehmen wollte. Der kurze Nebenfluß der Elbe war durch die Regengüsse der vorhergehenden Zeit beträchtlich angeschwollen und darum ein bedeutendes Hindernis für den Angreifer. Hier konnte der Kronprinz am 2. Juli seinen erschöpften Truppen den wohlverdienten Rasttag gönnen, er aber benutzte die Zeit zur Erkundung des Geländes.

Nach einer verhältnismäßig ruhigen Nacht zog der entscheidungsschwere 3. Juli, ein Dienstag, herauf. Der Erdboden war feucht, Wege und Straßen waren aufgeweicht, naßkalte Nebel lagerten über den Niederungen. Nach dem Plane des Oberbefehlshabers für die Aufstellung zur Schlacht bildeten die Sachsen den linken Flügel (wie vier Jahre später bei St. Privat wieder). Leider gab benedik nicht die Genehmigung zur Besetzung der Oertlichkeit, die der Kronprinz als die vorteilhafteste erkannt hatte; so mußte dieser seine Truppen nach umständlichen Verhandlungen mit dem Hauptquartier auf der Hochfläche von Problus aufstellen. Links davon lagen drei Orte mit dem Namen Prim, nämlich Neu-, Ober- und Niederprim. Hier treffen wir alle unsere Scheibenberger Krieger wieder, nur ist uns die genaue Stellung der meisten heute unbekannt. Anton Loos wurde für den Tag von seiner Truppe, dem 1. Jäger-Bataillon, zur Artilleriebedeckung abkommandiert. Schon ertönten von Nordosten her Gewehrfeuer und einzelne Kanonenschüsse, da marschierten die Sachsen aus dem Lager in die Gefechtsstellung. Sie mußten sich zum Kampf gegen Westen und Südwesten hin einrichten.

Ihre Gegnerin war die Elbarmee unter Herwerth von Bittenfeld. Gegen ½ 8 Uhr erschien sie mit ihrer Vorhut an der Bistritz, die sie nach einigen Vorpostengefechten auf schnell ausgebesserten Brücken leicht überschreiten konnte, weil jene vorteilhafteste Höhe von den Sachsen nicht hatte besetzt werden dürfen. Nun beeilten sich die Preußen, dort eine treffliche Artilleriestellung einzurichten, und damit faßten sie nicht nur festen Fuß auf der östlichen Seite des Bistritztales, sondern konnten auch ungehindert eine für die Sachsen gefährliche Umgehungsbewegung ausführen. Zunächst setzte ein mächtiger Artilleriekampf zwischen den beiden Gegnern ein. Als dann die preußische Infanterie links gegen Prim vordrang, warf ihnen Kronprinz Albert die Leibbrigade unter Oberst von Hausen, bei der auch die Scheibenberger Grenadiere standen, entgegen und schickte ihr später noch die 2. Infanteriebrigade zu Hilfe. Diesen Truppen gelang es, die Feinde weit zurückzutreiben. Da mag es gewesen sein, als der Kronprinz zu Anton Loos‘ Truppe kam und ihr zurief: „Kameraden, haltet Euch tapfer, die Preußen ziehen sich zurück!“ Man konnte ¾ 2 Uhr hoffen, die gewonnenen Stellungen halten zu können. Mit Macht setzte der Geschützkampf wieder ein. Da riß eine der einschlagenden Granaten neben Anton Loos 3 Mann weg, er selbst blieb unversehrt. Bald darauf sah er, wie man aus dem Dorfe zwei Spione abführte. So drängten sich die harten Eindrücke in die Seelen der Männer, die mit ihrem Leben abgeschlossen hatten.

Um der schon zeitig bemerkten feindlichen Umgehung wirksam zu begegnen, hatte der sächsische Führer seine linke Flanke durch zwei österreichische Brigaden sichern lassen. Das österreichische Heer bestand aus sehr unterschiedlichen Kämpfern, aus sehr, sehr tapferen, aber auch aus wenig standhaften Truppen, von dieser Art mögen Teile jener beiden Brigaden gewesen sein. Unter Zurücklassung von 8000 Gefangenen wichen sie gegen 2 Uhr dem Drucke der Preußen und liefen die Höhen von Oberprim zu den Sachsen hinunter, doch an deren ausgezeichneten Bataillonen brach sich das Zurückfluten, und das Feuer der sächsischen Batterien gebot dem Feinde in Oberprim ein entschiedenes Halt. Der Kronprinz selbst erschien wieder bei seinen Kanonieren, um sie anzufeuern. Da sah er rechts auf den Höhen von Chlum, im Mittelpunkte der österreichischen Stellung, preußische Batterien auffahren. Niemand hatte ihm gemeldet, daß das Heer des preußischen Kronprinzen schon seit mehr denn 2 Stunden in die österreichische Stellung eingebrochen war und sie aufrollte. Nun erfolgte der bekannte, geordnete sächsische Rückzug. ½ 3 Uhr hatte der Kronprinz den Befehl dazu gegeben, ¼ 4 Uhr verließ er mit den letzten sächsischen Truppen, den tapferen Kameraden unseres Anton Loos, dem 1. Jägerbataillon, das Schlachtfeld. Ungeachtet der massenhaft im Gehölz einschlagenden Granaten, der stürzenden Baumgipfel und Stämme, hatten sie östlich Problus, an der Waldecke bei dem Gehöfte Bor, standgehalten, bis das ganze sächsische Korps abgezogen war. Anton Ohorn hat den Helden und ihren Führern in dem Gedichte „Die Jäger von Bor“ ein ergreifendes Denkmal gesetzt.

(Schluß folgt.)

Erzgebirgische Heimatblätter Nr. 46 – Sonntag, den 14. November 1926, S. 2