Scheibenberger Kriegserinnerungen (2)

Vor 60 Jahren.

(Fortsetzung und Schluß.)

Die sächsische Artillerie war auf den rückwärtugen Höhen bei Rosnitz schon wieder in Stellung gegangen und hinderte die Preußen, unbedingt zu folgen. Hier war es wohl auch, wo die Batterie Hering den preußischen Totenkopf-Husaren schwerste Verluste zufügte. Wenig genug hatten die Sachsen dem Feinde überlassen: ein einziges Geswchütz, das wegen Achsenbruchs nicht fortgebracht werden konnte – eine schon umzingelte Batterie war wieder befreit worden, die Oesterreicher aber haben in der Schlacht 187 Geschütze verloren – eine Anzahl Gefangene, darunter Robert Zöbusch, eine Anzahl Verwundeter und – die Toten. Unter diesen waren auch ein Scheibenberger, der Stabstrompeter Karl Zöbisch. Als er in heißer Schlacht neben seinem General auf dem Rosse gehalten hatte, kam eine Granate, ein Volltreffer, hob ihn aus dem Sattel und schleuderte ihn wohl 6 Ellen fort. Mit einem Schrei hauchte er sein Leben aus. Sein Pferd, das ohne allen Schaden davongekommen war, erhielt sein Freund und Amtsnachfolger.

Es würde zu weit führen, von dem Rückzuge, bei dem sich die sächsische und österreichische Artillerie so glänzend geschlagen und ihre Schwestertruppen sicher gedeckt hat, noch viele Einzelerlebnisse zu berichten, nur weniges sei noch angeführt. Als Anton Loos einem ganz ermatteten Oesterreicher seine Feldflasche zum Trinken reichte, riß ein Granatsplitter dem armen Kameraden das Bein weg, Loos war wieder verschont geblieben. Wieviele sind auch im Weltkriege wiederholt so nahe am Grabe vorbeigeschritten! Nach viel Beschwerden und Hindernissen konnte ein Teil der Sachsen in dem überschwemmten Königgrätz, ein anderer Teil in der Nacht bei Pardubitz die Elbe überschreiten. Loos und sein ganzes Kommando fanden ihr den Kronprinz nach Pardubitz begleitendes Jägerbataillon nicht und verblieben die Nacht bei den Leibgrenadieren, die den ersten Weg gewählt hatten. Da die Preußen am andern Tage, weil ihre Verbände auch ganz durcheinander gekommen waren, nicht nachdrängten, konnten die Sachsen und Oesterreicher, die teilweise erstaunliche Marschleistungen vollbrachten, einen erheblichen Vorsprung gewinnen. Die Sachsen hatten nach den amtlichen Berichten ihre Verbände zuerst wieder in Ordnung gebracht. Ihr Marsch führte sie über Zwittau nach der Festung Ölmütz, von da auf großem Umweg durch die Karpathen an die Waag, da die Preußen die Marschstraße schon durchschnitten hatten, und schließlich in die Gegend von Preßburg und Wien. Da machte am 22. Juli die vereinbarte Waffenruhe dem Blutvergießen ein Ende.

Aber die Zwischentage hatten noch ein Scheibenberger Opfer gefordert, einen gar stattlichen, jungen Mann, den Infanteristen Karl Hüller, den Vater der nun auch schon verstorbenen Frau Minna Rau. Unsere alte frau Wachtmeister Greifenhagen kann sich noch lebhaft darauf besinnen, wie er zu ihr als jungem Mädchen nach Empfang des Gestellungsbefehles sagte: „Mir ist so eigen zumute, als wenn ich nicht wiederkäme.“ Sie tröstete ihn jedoch mit den Worten: „Du gehst doch nur auf Kommando!“ (So nannte man das jährliche Einrücken auf einige Zeit.) Nun hatte sich seine trübe Ahnung doch erfüllt. Er war durch Kopfschuß verwundet worden, anscheinend in der Schlacht bei Königgrätz, so in die Hände der Preußen gefallen und am 18. Juli im Lazarett zu Neu-Bidschow, etwa 10 km westlich von Problus, seinen Wunden erlegen. Die Erinnerungstafel für Karl Zöbisch und Karl Hüller befindet sich bekanntlich in der Parentationshalle.

Unsere Soldaten genossen nach beendigtem Kampfe in Ober- und Niederösterreich eine herzliche Gastfreundschaft. Das 1. Jägerbataillon lag wochenlang auf Dörfern bei dem schönen Linz. Die Cholera, die im preußischen Heere vielmehr Opfer als die Waffen forderte, scheint die Scheibenberger verschont zu haben. Als endlich als letzter der Friede mit Sachsen am 21. Oktober geschlossen war, konnte die Rückkehr unserer Truppen in die Wege geleitet werden. Das 1. Jägerbataillon fuhr über Bayern und das Vogtland nach Leipzig, wo man die „Jäger von Boe“ begeistert empfing und bewirtete. Auch die anderen Truppen kehrten in ihre Garnisonen und von da, soweit sie entlassen wurden, anscheinend in geschlossenem Verband in ihre Heimatbezirke zurück. Unsere Scheibenberger kamen wahrscheinlich am 18. November heim. Ihnen zu Ehren wurde im Schützenhause ein festlicher Abend veranstaltet.

Welche Erlebnisse hatte aber die verflossene Kriegszeit den Scheibenbergern daheim gebracht? Als der Krieg ausbrach, traten im ganzen Lande wilde Kriegsgerüchte auf. In manchen Orten hieß es, preußische Spione wären da und vergifteten die Brunnen. Da bekannt war, daß das Land den Preußen kampflos überlassen werden sollte, fürchtete man sich allgemein vor Raub und Plünderung der Feinde. Als da in einem erzgebirgischen Orte nachmittags um 4 Uhr Kinder aus der Schule nach Hause kamen, fanden sie ihre Eltern nach langem Suchen auf dem Oberboden, wo diese ihre Wetrtsachen unter Holz und Reisig versteckten. Noch vorsichtiger war Kaufmann Schwarzenberg in Scheibenberg. Es geht die allgemeine Rede, daß er seine Gold-, Silber- und sonstigen Wertsachen neben einer Esse habe einmauern lassen. Heute jedoch ist von dem Mauerwerk im ganzen Hause keine Spur mehr zu finden. Von der großen Aufregung auf den Eisenbahnen am 18. und 19. Juni und dem hastigen Wegschaffen der rollenden Betriebsmittel merkte man hier natürlich nichts.

Teils mit Bangen, teils mit Spannung, sah man der Ankunft der Preußen entgegen. Da kam eines Tages Hermann Krauß, der spätere hiesige Barbier, damals noch ein Jüngling, ganz außer Atem aus Oberscheibe gelaufen und rief: „Die Preußen kommen!“ Schnell verbreitete sich die Kunde und die Erregung. Große Bestürzung gab es im Haus Nr. 47 an der Wilhelmstraße, wo der Besitzer Kaiser eben ein Schwein geschlachtet hatte. Schnell wurde es, wie es gerade war, halb abgeschabt, im Keller in Sicherheit gebracht. Inzwischen hatten sich auf der Albertstraße eine Menge Leute eingefunden, die sahen vom „Knöchel“ her gegen 30 preußische Reiter mit ihren Lanzen in den Ort kommen, gewiß ein ganz außergewöhnliches Ereignis für einen kleinen erzgebirgischen Ort. Als die Marssöhne an der Menschenmenge vorüberritten, konnte sich ein ganz Erbitterter nicht enthalten, sie zu beschimpfen: „Ihr Preußenhunde, ihr Spitzbuben!“ Die Umstehenden wehrten dem Uebereifrigen, doch die Reiter achteten nicht auf ihn, auch um das in den Keller vor ihnen geflüchtete Schwein kümmerten sie sich nicht. Auf dem Markte machten sie halt, sprangen ab, pfählten ihre Pferde an, versorgten sie und ließen sich für Geld zu essen und trinken holen. Das war eine Augenweide für die Scheibenberger Jugend! Nach kurzer Rast saßen sie wieder auf und ritten nach Schlettau weiter. Unterwegs aber gab es eine kleine Ueberraschung. Als die Streife am Wege zum fiskalischen Steinbruch vorüber war – das Gasthaus stand noch nicht -, schoß es auf dem Berge. Schnell begaben sich die Reiter in Deckung, der Offizier aber fragte Leute in der Nähe nach den vermeintlichen Feinden. Da er ihrer Erklärung, es seien Sprengschüsse im Steinbruche gewesen, nicht glaubte, ritt er selbst nach dem Berge hinauf, kehrte aber, weil kein Schuß mehr fiel, auf halbem Wege wieder um und trabte mit seinen Begleitern nach Schlettau zu.

Auch einige Abteilungen Infanterie marschierten hier durch, darunter waren Männer mit großen Bärten und Jünglinge mit ganz jugendlichem Antlitz. Sie begaben sich nach Annaberg und zum Teil wohl auch nach Böhmen. Die Abteilung Landwehr in unserer Bezirks-Hauptstadt hatte bei ihrem Dienst oft Zuschauer aus der Umgegend. Wenn z. B. unser Herr Paul Kaiser, einer unserer Gewährsmänner, als Knabe seine Posamenten drüben abgeliefert hatte, hat er öfters auf dem Markte ihrem Exerzieren zugesehen und mit den anderen Zaungästen gelacht, wenn die Zweckenstiefel der Landwehrmänner unheimlich auf dem Pflaster krachten.

Die Stimmung im Lande war gedrückt. Dafür sorgte schon das regnerische Wetter. Dann kamen die schlimmen Nachrichten von den Niederlagen der Sachsen und Oesterreicher. Vor allem aber war man sehr um das Schicksal der Angehörigen bekümmert, zumal 9 Wochen lang keine Kunde von ihnen kam. Endlich brachte der Postbote den ersten Soldatenbrief, und zwar von Karl Oeser, der auch über die besonderen Schicksale der übrigen Scheibenberger Soldaten berichtete. Da atmeten die meisten erleichtert auf, einige Familien aber waren in schwere Trauer versetzt. Eine amtliche Mitteilung an die Hinterbliebenen der Gefallenen traf nicht ein, so daß sie immer noch in Ungewißheit und Hoffnung lebten.

Die Familie Zöbisch erhielt auf ungewöhnliche Weise sichere Kunde von den Schicksale ihres Karl. Nach dem Friedensschlusse wurden 60 Soldatenpferde, darunter das des ehemaligen Stabstrompeters, nach Annaberg befördert, um da versteigert zu werden. Unter der Begleitmannschaft war, sicher nicht durch Zufall, der langjährige Freund des Gefallenen. Er erhielt von seinem Offizier die Erlaubnis, mit jenem Pferde nach Scheibenberg zu reiten und den Eltern die letzten Andenken ihres Sohnes zu übergeben. An einem schönen Spätherbstnachmittage kam der jetzige Stabstrompeter in schmucker Uniform auf dem stattlichen, schwarzen Roß seines toten Kameraden vom Feldschlößchen her in unser Städtchen, bog auf dem Markte wegesicher links ab, ritt die Kirchgasse hinauf und hielt vor dem ihm wohlbekannten Haus Nr. 6 auf der Schulstraße. Bald hatten ihn Zöbischs erkannt, zogen sein Tier in den Stall und geleiteten ihn in die gastliche Stube, in der er einst mit seinem Freunde auf Urlaub geweilt hatte. Unter Schluchzen vernahmen nun die Eltern und Geschwister die Einzelheiten von dem letzten Kampf und dem Heldentode ihres treuen Sohnes und Bruders. Als letztes Andenken an ihn überbrachte der Stabstrompeter noch dessen Tornister, der sich bei der Bagage befunden hatte, mit Inhalt. Als der Gast nach geraumer Zeit wieder aufbrach, hatten sich Kinder und Erwachsene vor dem Hause eingefunden und wollten als Zeugen dabei sein, wenn der seltene Soldat davonritt. Vater Zöbisch hatte die Absicht, das ehemalige Pferd seines Sohnes in den nächsten Tagen in Annaberg zu erstehen, doch der Schmerz der Mutter wäre dann täglich beim Anblick des Tieres aufs neue wieder belebt worden. Darum ließ der Vater seinen Plan fallen, und das Pferd kam zu einem Forstmann nach Königswalde, wo es noch lange als Reittier seine Dienste verrichtete.

Wie beim Beginn des Krieges, so sah Scheibenberg ebenfalls nach dessen Schluß einige Durchmärsche preußischer Infanterie, die nun frohen Mutes heimkehrte. Auch hier schickte man sich schnell in die neuen Verhältnisse, wozu sicher das Verhalten der Preußen beim Durchzug und in Annaberg beigetragen hatte. Dazu neigte sich mehr und mehr, daß die erfolgte Lösung der deutschen Frage die beste war.

Erzgebirgische Heimatblätter Nr. 47 – Sonntag, den 21. November 1926, S. 1