Die Sage vom Hirtstein.

Nach einer Erzählung von Luise Pinc, Satzung.

Die Hebefeier des Unterkunftshauses auf dem Hirtstein.

Über die Hebefeier finden unsere Leser einen ausführlichen Bericht in der Montag-Nummer vom 30. August 1926 der „O. Z.“

Wenn du, o Wanderer, vorüberziehst in stiller, verträumter Sommernacht, so grüßt dich vom Berg‘ ein vergessen Lied, umwoben von Blüten und Mondscheinpracht.

Dann hemm‘ deinen Schritt und lausche dem Wind,
er erzählt dir vom Hannes und seinem Kind.

Laß deinen Geist einmal dringen hinein in das zerrissene, graue Gestein, da entrollt sich ein Märchen deinen Blicken, das dich in frühere Zeit will entrücken. Du siehst einen Knaben, in seliger Stund‘ führt er die Flöte an seinen Mund, dann hörst Du sein Spiel, es erschallet so weit, klagt dir sein Sehnen, sagt dir sein Leid.

In dem öden, noch von wenigen Menschen bewohnten Dörfchen S. lebte in früheren Zeiten ein alter Kräutersammler; niemand wußte, woher er kam, niemand wußte, wem er angehörte. Es wagte sich auch keiner, den alten Sonderling zu fragen, denn er hätte doch nur mit einem müden Kopfschütteln geantwortet. Wenn man ihn genau betrachtete, sah man ein von tausend Furchen durchzogenes Gesicht, ein schlohweißer Vollbart umrahmte es und machte ihn dadurch einem Heiligen gleich. Nur aus seinen Augen sprach noch Leben, zuweilen konnten sie aufleuchten wie überirdische Flammen, und man wußte nicht, ob sich hinter jenen Sternen Haß oder Liebe verbarg.

Damals war die kleine Ansiedlung noch völlig katholisch, und daher kam es auch, daß sich beim Anblicke dieses Alten Frauen und Kinder in tiefster Ehrfurcht ein Kreuz schlugen. Beherzte junge Burschen dagegen brachten es doch nicht übers Herz, an seiner Hütte zu lauschen, um zu erfahren, was des Alten tiefstes Geheimnis war. Manchen Abend, wenn der Mond sich hinter Wolkenschleiern versteckt hatte, schlichen sie hinaus über holprige, zerklüftete Feldwege, dem nahen Berge zu. Oefters zuckten sie einmal zusammen, wenn in solch‘ einer schauerlichen Nacht sich noch ab und zu aus dem grauen Gestein einige Funken verloren, niemand wagte sich dann zu rühren, glaubten sie doch immer, der Alte stände in seiner unheimlichen Erhabenheit vor ihnen und sie kämen nie und nimmer zum Ziele. Erst wenn sie wieder ringsum völlige Ruhe und Einsamkeit umgab, krochen sie den steigenden Weg zum Berggesgipfel empor.

Dort stand nun die alte Hütte, kein Fremder ahnte, daß sich hier eines Menschen Schicksal erfüllte und er sein Leben armselig fristete. Zwischen Heidekraut und Preißelbeerlaub stand das aus Moos und Stroh zusammengefügte Bauwerk, seine einzige Zierde bestand aus einem viereckigen Erdloch, das als Fenster diente. Im Inneren erblickte man ein Strohlager und einen aus Steinen zusammengesetzten Ofen. An den Wänden hingen getrocknete Kräuter, Johannesblumen und Heidekraut. Auf einem abgeschnittenen Baumstumpf, der als Tisch diente, brannte ein Kienspan, den er ab und zu erneuerte. – Der alte Kräuter-Hannes, so hießen ihn die Dorfbewohner, saß auf seinem Strohlager und nickte immer vor sich hin, oder er sah mit verklärtem Blick zum Fenster, als sollte ihm von dort das schönste und größte Glück, das nur je ein Mensch besessen, entgegentreten. Und vor der Seele des einsamen Mannes, dessen sehnende Augen in der stillen Nacht verlangend immer wieder das Leben sucht, steigt vielleicht auf, was lange versunken und vergessen.

Die Lauschenden sehen ganz genau, wie der Alte eine Träne zerdrückt, dann langt er mit seinen weißen Händen ins Stroh, und vor ihren erstaunten Blicken gewahrten sie einer Geige ähnliches Instrument. Mit zitternden Händen, als liebkoste er sein eigen Kind, streicht er behutsam über die Saiten und spielt, daß die mutigen Burschen glaubten, dieser Mensch sei aus dem Schoß der heiligen Natur geboren, denn er spielte von Bäumen und Blüten, Steinen und Quellenrieseln, dazwischen aber jauchzte es wie Vogelgezwitscher und Jugendzeit. —

Nun wissen sie genug vom alten Kräuter-Hannes; mehr brauchen sie nicht zu erfahren, und mit Tränen in den Augen wandern sie dem schlafenden Flecken zu. Ihr Herz ist noch ganz benommen, es schlägt noch sehnsuchtsvoll beglückt im Takt der wundersamen Musik, und jedem, dem sie erzählen, was sie erlebt haben oben am Berge, erfaßt eine noch tiefere Ehrfurcht vor diesem ergrauten Alten und seiner stillen Hütte. –

Wieder ist eine so finstere, schauerliche Nacht, der Wind heult um den einsamen Bergesgipfel, Blitze zucken wie feurige Schlangen umher, um mit tosendem Donnergrimme die schlafende Welt zu erschüttern. Aus jener Hütte sieht man wie immer das kleine Erdloch erleuchtet, und drinnen wandert der Alte ruhelos auf und nieder, als ahnte er, daß noch ein unheimlicher Gast bei ihm Einlaß begehrte. Wieder durchzuckte ein blitzender Strahl die Finsternis; da, war es nicht ein Klopfen? Oder war es der unbändige Sturm, der an den Felsen des herabhängenden Gesteines lockerte? Nein, er hört jetzt genau, daß sich ein dunkles Etwas in die Hütte drängt, um im gleichen Augenblick dem zu Tode erschrockenen Alten entgegenzutreten. Noch nie hatte ein menschliches Wesen seine wilde Schwelle übertreten, und heute, in einer Nacht, wo das ganze Gebirge brandete, sah er sich einem weiblichen Wesen gegenüber, nein, es mußte ein Geist sein, denn unheimliche Funken stoben aus den Augen, die den Hannes mit eisernen Fesseln umgaben. Unter einem langen, wallenden Mantel trug die Frau ein Bündel, das sie ab und zu mit einem tiefen Seufzer an ihr Herz drückte

„Kräuter-Hannes!“ so erklang jetzt eine Stimme wie aus Grabesdunkel, „hier bringe ich Dir ein selten Kleinod in Deine Einsamkeit; ich weiß, daß Du der Einzige bist, dem es gebührt, nimm es und höre: Halte dieses Geschenk hoch in Ehren, laß es nie eines Menschen Auge sehen, verwahre es wie Gold und Edelstein tief in des Berges Gründen und sei immer dieser Nacht eingedenk, wo die weise Frau bei Dir Einkehr hielt und brachte Dir das, nach dem Deine hungernde Seele verlanget. Brichst Du aber mein Wort, dann sollst Du dem, was Dir das Liebste, zu Stein werden.“ – Noch ehe sich der Alte von seinem Schrecken erholen konnte, war sie verschwunden, als hätte sie der Donner hinweggetragen über Berge und Täler; zu seinen Füßen aber auf dem Strohlager lag das Bündel, was ihm die weise Frau gebracht hatte.

„Gold und Edelstein“ sagte sie, „ach, zu was braucht der alte Hannes Gold! Leben will er sehen, Liebe will er spenden, doch niemand ist mehr auf der Welt für ihn, wer weiß, ob ihn jemals eine Mutter an ihr Herz gedrückt. Nur das eine weiß er, daß sein Leben einmal, nur einen einzigen Augenblick gehofft hat, damals, als die bildschöne Gräfin v. H. in der alten Kapelle im Dörflein ohnmächtig in seinen armen lag, wo er sie für einige Herzschläge lang an seine Brust drücken durfte. Als sie dann zu sich kam, und der arme und doch so schöne Hirtenknabe über ihr sich neigte, um sich satt zu trinken an der Schönheit dieses einzigen Augenblicks, sie ihm aber mit einem häßlichen Lachen die Tür wies, da war sein junges Leben vernichtet, er wollte nichts als Rache üben, Rache über die ganze Menschheit, über sich selbst. Und der schöne Knabe wurde ein alter Mensch; das Herz, das noch vor wenigen Minuten in heißer Glut gestrahlt, wurde zu starrem Eis. – Und heute will ihn die Welt mit Gott versöhnen, niemals! – Wieder sieht er das Bündel zu seinen Füßen, mit einem Fußtritt will er es fortwerfen. Doch, was ist das? Ist denn sein Geist umnachtet oder jagen ihn Schreckgespenster? Hat denn das Bündel Leben in sich? Leben, nach dem er so sehr hungert? Unwillkürlich beugt er sich nieder, und wahrhaftig, es regt sich. Mit zitternden Händen schlägt er ein wollenes Tuch auseinander, und, o Wonne! es dünkt ihm, als würde seine armselige Hütte zum Palast: zu ihm empor schaut ein Knäblein mit blonden Locken und schwarzen Augen, Augen, wie die Nacht so tief, so unergründlich. Mit einer Liebe, die er nie gekannt, drückt er dieses wundersame Geschöpf an sich und heiße Tränen rinnen in seinen schneeweißen Bart. Nun hält er das Leben in seinen Händen, Liebe will er bringen diesem Kinde, und so will er sich an den Menschen rächen, daß sich niemand dieses Kindes freuen darf.

Mit tiefem Danke gedenkt er der weisen Frau und ihre Worte kommen ihm noch einmal in den Sinn. „Laß es nie einem Menschen sehen,“ sagte sie, „niemand, weise Frau, soll dieses Kind zu Augen bekommen, ich will es verwahren wie Gold und Edelstein in des Berges Gründen. Das soll mein Schwur für Dich sein.“ —

Seit jener Nacht sind nun Jahre vergangen, mächtige Unwetter brausten über des Berges Gipfel dahin, zerrten und rissen tiefe Furchen in das Gestein, gleich starren Träumen, nur im Herzen des alten Kräuter-Hannes war eine Blume erblüht, die sein Antlitz noch inniger verklärte, als es vor Wochen und Jahren gewesen. Sein ganzes Wesen war verändert, das Glück hatte noch einmal mit voller Macht seine Rosen über ihn ausgestreut. Sein Hirtenkind ging ihm über alles in der Welt, für ihn ging er stundenweit über die Berge, um erst spät abends heimzukommen mit allerhand, was das Kinderherz erfreute, auch dann noch, als der Knabe bereits ein stolzer Jüngling geworden war. In seiner Höhle, die ihm der alte Vater unter saurem Schweiß gebaut hatte, fühlte er sich als Prinz, umgeben von blitzendem Gestein, von grünem Moos und rotem Heidekraut. Er wußte nicht, daß es auch eine Sonne gab, eine andere Welt; nein, er wußte nur, daß es einen Menschen gab, der ihn liebte, und den er wieder liebte. Mit ihm lebte er in seiner Bergeshöhle, ob draußen der Frühling mit tausend Blumen und Liedern über die Berge jauchzte, oder ob sich Wolkenberge von Schnee und Eis über seinem Haupte auftürmten, – er ahnte nichts.

Seine Lust war voll Musik, der alte Hannes lehrte ihm seine Weisen und seine Lieder, und wie jubelte des Mannes Herz beim Anblick dieses schönen Bildes, das ihm seine Schöpfungen aus tiefster Brust wiedergab in einem noch schöneren Klang wie den seinen. So vergingen den Beiden Wochen und Monate im ewigen Einerlei; doch am Fuße des Berges, da regte und bewegte es sich, es wurde eine Hütte neben der anderen erbaut und Menschen fanden sich zu Menschen. Aus der kleinen Kapelle erstand ein schmuckes Kirchlein, und durch regen Fleiß einten sich Wiesen und Felder zu einem einzigen Teppich. Zu all der erstandenen Schönheit aber rauschte in gewaltigen Akkorden der fichtenschwere Wald sein uraltes Lied. –

Eines schönen Sommermorgens, als der erste Sonnenstrahl die Erde wachgeküßt, schwang unser alter Kräuter-Hannes seinen Quersack über die Schulter, um für sich und sein Kind in den umliegenden Dörfern etwas Lebensmittel zu holen. Er verkaufte Kräuter und Beeren und wanderte manchesmal stundenlang über die Berge bis weit über Annaberg hinaus, um erst spät Abends wieder zurückzukehren. So kam er auch heute wieder vollbepackt zurück, eher aber, als dies sonst der Fall war. Wie er endlich unter Mühe und Schweiß die alte Straße hinauf zu seiner Hütte gewandert war, da hörte er eine wohlbekannte wundersame Melodie. Das Herz blieb ihm in der Brust stille stehen, ahnte er doch, daß sich sein Hirtenkind an das Licht der Sonne gefunden hatte; ach, jetzt hörte er ganz deutlich sein Lieblingslied: „Hörst Du mein Horn, es erschallet so weit, klagt Dir mein Sehnen, sagt Dir mein Leid.“

Und dann ein langgezogenes schwermütiges Echo aus Waldesgründen und Bergesklüften. er muß eilen, vielleicht hat noch keines Menschen Auge den Knaben erspäht, dann wäre noch Zeit, umzukehren. Ach, er weiß, die Ahnfrau würde kommen und würde ihr Wort halten und vernichten, was er mit Stolz in seinem Busen trägt. Mit schwerem, keuchenden Atem kommt er endlich am Ziele an und sein Hirtenknabe eilt ihm entgegen in Lust und Seligkeit. Er ist ja so glücklich, so reich auf einmal geworden, seit er die Sonne sieht, die Vögel singen hört und Menschen erschaute. Die Märchen von seinem Vater sind ihm zur Wahrheit geworden, dieses alles erzählt er seinem Beschützer unter tausend Wonnen. Ja, er sagt ihm, daß er ein wundersüßes Mädchen heut‘ an sein Herz gedrückt, er will sie auch wiedersehen, er will in’s Dorf, er liebt sie ja so unaussprechlich. – Vor lauter Glück sieht er nicht, wie des Alten Augen sich verdunkeln, er sieht nicht, wie die Arme an seinem Körper schlaff hernieder hängen, er sieht nur die Welt, die schöne, wunderweise Welt. Und wie er noch einmal bittet, der Vater solle ihn doch gehen lassen, da erhebt sich mitten in dem schönen Sommernachmittag ein mächtiger Sturm und vor des Alten halbgebrochenen Augen steht wie aus der Erde erstanden die weise Frau, unheimlicher noch wie in jener Gewitternacht. Abwehrend streckt der alte Hannes seine Hände gegen sie aus, um noch einmal Gnade zu erflehen für sich und sein Kind, doch sie kennt kein Erbarmen; mit eisiger Stimme schreit sie in die Berge hinein, die Wolken zerreißend in donnerndem Krachen. „Mein Fluch treffe Euch beide, weil Du Deinen Schwur gebrochen, so sollst Du mit Deinem Hirtenkinde zu Stein werden.“ Ein Stöhnen, ein Donnern folgte den Worten der weisen Frau und vor ihren Blicken erstand ein Gebilde von Stein.

So bleibt nun für die ganze Nachwelt der Hirtstein, niemand sah mehr die weise Frau, vielleicht schleicht sie noch heute in dämmernden Nächten um die Gipfel der Berge.

Noch heute reckt in stummer Majestät der Hirtstein seine Arme in den blauen Aether, auf seinen Höhen freut sich Jung und Alt, und wo einst des Alten Hütte stand, grüßt uns in Zukunft eine Stätte der Behaglichkeit; möge sich in seinen Räumen jeder Wanderer zuhause fühlen, und wenn dann beim frohen Becherklang echte erzgebirgische Weisen erklingen, dann lauscht vielleicht in stummer Andacht der Hannes mit seinem Kind und schickt seine Grüße aus alten Zeiten hinab in das Tal, wo sich im Laufe der Zeit ein schmuckes Dörfchen mit lustigen gutmütigen Menschen angesiedelt hat. Wenn wir aber unsre Schritte zum Berge lenken, wo vielleicht in schwüler Sommernacht uns noch einmal ein Echo grüßt aus der alten früheren Zeit, dann gedenken wir den Stunden, wo die weise Frau um den Gipfel des Berges kreiste, und wo im Frühling die Schneelawinen eine alte morsche Hütte ins Tal trieben, um mit ihr alles Alte in das Meer der Vergessenheit zu senken und dem Neuen, Zukünftigen tausend Schönheiten zu erschließen.

Drum Wandrer, wenn Du vorüberziehst,
Vom Berg‘ ein vergessen‘ Lied Dich grüßt.
O, hemm‘ Deinen Schritt und lausche dem Wind,
Es grüßt Dich der Hannes mit seinem Kind.

Erzgebirgische Heimatblätter Nr. 36 – Sonntag, den 5. September 1926, S. 2