Was um St. Annen raunt.

Guido Wolf Günther.

Recht wie eine Gluckhenne schaut auf unserem Bilde die Annaberger Hauptkirche aus, und fast ängstlich ducken sich die Häuser um das hochragende Gemäuer, das Jahrhunderten sein ehrwürdiges Grau verdankt. Wuchtig weist der Glockenturm über das Häusermeer, als wollte sein Himmelstreben die Dächer mit hinaufziehen zu Anbetung und Lobpreis; in Demut aber lagert sich der Grundbau als liegendes Kreuz auf die Erde, immer erinnernd an Gottes unerforschliche Güte; die uns seinen Sohn als Opfer schenkte. So wirkt St. Annen Andacht und Glaubensmut schon durch den gewaltigen äußeren Eindruck, und ein rührendes Bild ergibt sich dem Betrachter, von welcher Seite aus er auch immer die Stadt betrachtet: das Bild der Glucke, die treulich ihre Küchlein um sich sammelt.

Und wer hineinlauscht in das Raunen und Wispern, das im alten Gemäuer umgeht und überspringt auf Nachbarhäuser und Satteldächer, dem werden alte, halbvergessene Mären kund und Gestalten und Bilder werden wach aus der Zeit, da die alte St. Annenkirche jung war und zu ihrem Dom Menschen in anderen Trachten und mit anderen Sitten wallten. Menschlich Irren und Leiden spinnt ernste Sagen um das alte Gotteshaus und uns Menschen von heute erwächst manche Lehre aus längstgeschwundenen Tagen.

Der Fallsüchtige.

(Worte zu einem Gemälde am Pflockschen Altar.)

Das war der denkwürdige 26. Juli im Jahre des Heils 1519, da der Stadt am Schreckenberge so große Freude widerfuhr. Im langen, frohbewegten Zuge schritten die Bürger mit Frauen und Kindern vom Marktplatze bergwärts St. Annen zu: heute sollte das Gotteshaus geweiht werden, und der hochehrwürdige Bischof Johannes von Meißen selbst schritt mit im Festzuge, um das geweihte Bildnis des Gekreuzigten segnend über die Schwelle der Hauptkirche zu tragen. Heiß brennt Bergsommersonne auf die Gemeinde, und manches Mönchlein wischt verstohlen mit schneller Hand über den Spiegel der Tonsur, auf dem Schweißperlen lustig rollen. Leise knistern seidene Kirchenfahnen in buntem Wirrwarr kunstreicher Stickerei, und das Landvolk, das immer noch durch die Tore einströmt, gafft bewundernd jeden neuen Trupp an, der im langzeiligen Wallfahrtszug vorüberzieht. Ueber allem Wallen und Wogen aber ziehen Glockenklang und Weihrauchschwaden feierliche Schleier, daß den ernsthaft schreitenden Menschen ganz eigen ums Herz wird und ein Ahnen von der Majestät dessen sie erfüllt, zu dessen Haus sie weihend wallen.

Am Kirchentor aber stockt plötzlich der Zug; – menschlich Elend zerreißt mit verkrampften Gliedern festliche Weihestimmung: ein Fallsüchtiger windet sich am Boden und zwingt zu erbarmendem Mitleid mit seines Leibes gräßlicher Qual! – Schon tut sich Beutel auf und Almosen in Fülle suchen sich loszukaufen von ähnlichem Schicksal; Frauen weinen, Männer stehen stummbedrückt und stellen im Herzinnersten die große ewige Frage an den, der doch auch Vater dieses Elenden sein soll. Da tritt auch Bischof Johannes zur Schwelle, vor der sich der Fallsüchtige am Boden wälzt. Tausend Lichter glüht im Sonnenglast die goldene Monstranz aus; die er in Händen hält, aber wie Wetterleuchten bricht aus seinen Augen der Strahl, der gewohnt ist, in Menschenherzen hineinzuleuchten und Milde oder Zorn zu wecken. Was sich hier krümmt vor des silberhaarigen Greises Füßen, – ist es gottverlassene, menschliche Qual, oder ist es gottlästernde, verwegene Verstellung, die der Mitmenschen Herz frevlerisch bewegen will? – Wie innere Erleuchtung springt ein seltsam Glänzen in des Bischofs Augen und beschwörend fast, nicht segnend nur, hebt er die Hand und Kruzifix dem Fallsüchtigen entgegen: „Bist Du geplagt von entsetzlicher Pein, so helfe Dir der Gekreuzigte! Treibst Du aber frevles Spiel mit Deinem gottgeschenkten Leib, so sei gestraft in diesem Zeichen!“ –

Und jäh ergreift den Fallsüchtigen der Krankheit entsetzliches Wüten! Bestürzt weichen die Gutherzigen zurück vor diesem Zeichen Gottes an einem Frevler! Was vordem nur Gaukelei war, um milde Herzen zu rühren, – jetzt wird es zum gräßlichen Krampf der Glieder, der in unbeschreiblicher Qual die Erde schlägt mit tausend Zuckungen. –

Im innersten Herzen betroffen, angerührt vom Finger Gottes, ziehen die Weihegäste in St. Annens Hallen. Wie ein Blitz durchleuchtete dies seltsame Erlebnis die Menschen und mit Flammenschrift schrieb sichs ein: „Irret euch nicht, Gott läßt sich nicht spotten!“

Das rote Kreuz im Kirchenpflaster.

Kaum hundert Jahre nach diesem Begebnis trug sich um St. Annen ein ähnliches Gottesgericht zu:

Stand da auf lustigem Ausguck auf St. Annens Turmgalerie ein Knäblein, nahe dem Alter, da man die Kinderschuhe auszutreten pflegt. Wie lustig doch der weite, schwarze Kurrendanermantel im Winde flatterte! Und wie ärgerlich der Turmfalk um die Brüstung rüttelte, in dessen Simsung das Weibchen ängstlich saß und brütend für ihre Eier fürchtete. Drunten brauste das Orgelwerk, und Priestermund segnete ein junges Paar fürs Leben ein; nur kurzen Ausguck konnte der Knabe sich gönnen, dann rief ihn seine Pflicht wieder hinab in den Dämmerschein der Kirche. Nur einen Blick noch, einen allerletzten hinab auf die liebe Stadt, hinein in kleine Stübchen mit tausend Geheimnissen, die den Knaben lockten und zogen. – Da, – wars ein Windstoß, der jäh den Knaben umriß, – wars der schrille Schrei des geängstigten Turmfalken, der den Knaben jäh erschreckte? – Mit einem wilden Aufschrei stürzte der Aermste plötzlich in die Tiefe! –

Engel aber rissen sein Kurrendanergewand im Sturze auseinander und breiteten es aus zu tragendem Fallschirm, also daß der Knabe wie auf Flügeln unbeschadet am Boden ankam, und gläubige Herzen auf den Knien dem Herrgott für gütige Bewahrung inbrünstig dankten! –

War aber auch ein Schieferdecker in St. Annaberg, dem der Glaube wankend geworden war in rauher Gesellen Umgang. Dem deuchte des Knaben göttliche Bewahrung nicht väterlich Wunder noch himmlische Errettung, sondern Selbstverständlichkeit wegen des tragenden Gewandes.

Weshalb er sich denn auch vermaß, dieselbe Luftfahrt freiwillig zu unternehmen zu Trotz und Spott für gläubige Gemüter. Priestermahnung und guter Freunde Abreden ungeachtet, stieg der Tor empor zu jener Brüstung, um Gott zu versuchen und ein seltsam Wunder zu wandeln in menschliches Können ohne göttliche Gnade.

Tat sich, auf hoher Warte angelangt, einen weiten Mantel um, um wie weiland Dr. Faust durch die Luft zu fliegen. Schwang sich auf die Brüstung, tat den Schritt ins grauenvolle Ungewiß und – stürzte in reißendem Wirbel in die Tiefe, da sein Mantel wie ein Sargtuch sich um seinen Leib schlang und den gräßlichen Sturz so grausam helfend beförderte! –

Erschütterte Annaberger Bürger aber setzten ein blutrot Kreuz aus Steinen ins Kirchenpflaster an der Stelle, wo des Vermessenen Leib zerschlagen niederschmetterte. „Irret euch nicht -„.

Erzgebirgische Heimatblätter Nr. 19 – Sonntag, den 9. Mai 1926, S. 3