Bilder von einer Wanderfahrt durch das Erzgebirge vor 80 Jahren (6)

(Fortsetzung unserer Artikel in Nr. 40, 41, 42, 43 vorigen Jahres und Nr. 9 ds. Js. der Erzgebirgischen Heimatblätter.)

Wiesenthal

Vom alten Buchholz über Sehma, Cranzahl, Neudorf, Kretscham nach dem alten Oberwiesenthal und Fichtelberg.

Von Annaberg nach Catharinenberg am Buchholz, gemeinhin

Buchholz

genannt, ist keine halbe Stunde Weg. Etwa 2 bis gegen 2 ½ Tausend Menschen, meist Posamentierer, sind in ihren gegen 250 Häusern in ein enges Felsental so eingequetscht, daß man nur selten eine Wohnung trifft, zu deren Eintritt nicht Stufen auf- oder abführten. Hoch oben an der östlichen Talwand steht, auf die Zehen gestellt, St. Catharina, um ihre Schwester Anna immer im Auge zu behalten; ihr sind eine Partie Häuser nachgeklettert und schauen herab in das Städtchen, welches wie ein Zeichen in einem halbaufgeschlagenen Buche liegt. Anfang und Ende dieser Talschlucht bieten dem Auge höchst anziehende Punkte dar: Unten eine zu große Brücke für die kleine lustig dahin fließende Sehma, und viel zu klein, um eine Erleichterung für das Fuhrwerk am jenseitigen Gehänge in der Art herbeizuführen, daß der Chaussee-Schnitzer, wo eine Scheune am steilen Berge nach Schlettau hin, wie ein Kegel in der bekannten Quadrille, bis zur Halsbrecherei umfahren und umlaufen werden muß. Jetzt bei der regen Gewerbstätigkeit und der zunehmenden Bevölkerung in Buchholz, hat man im Laufe dieses Jahres eine Menge schmucke Häuser an die Chaussee gebaut, um die höchst selten gewordenen Quartiere für fremde Arbeiter zu vermehren.

Abwärts und ganz nachbarlich an diesen Neubauten und wo die Sehma mehrere Einsprünge macht, hat sich der Emilienberg mit seinen Anlagen und Lusthäuschen bequemlich hingelagert, um die Aufmerksamkeit des gegenüber liegenden Waldschlößchens auf sich zu ziehen. Ob es ihm gelingen wird, – steht dahin; denn Schloß und Schlößchen sind ritterliche Benennungen.

Oberhalb Buchholz tritt uns ein weit geöffnetes Tal mit seiner Lieblichkeit entgegen. Es schließt die Karchische Spinnerei und die Cunersdorfer Gemeindemühle in seinen Schoß und rechts steigt ein mit dürftigem Nadelholz bewachsener hoher Felsenkamm empor, der nach Buchholz hin steil abgebrochen ist und dicke Schalen von Gneus zurückgelassen hat, auf deren Kanten Spaziergänge zu Lusthäusern, Einsiedeleien und Ruhebänken führen, von welchen man unmittelbar an das Ende aller Lebensherrlichkeiten erinnert wird: das ist der Totenacker! Zwischen Gräbern kauert ein verbrettertes, beschindeltes und in der Ausführung völlig verpfuschtes Gebäude, wie ein präadamitisches fossiles Tier; um dasselbe herum stehen eine Menge geisterartige, weißgetünchte Leichensteine, die, wie die Toten im Sterbekleid, in der Dämmerung einen Versuch zur Auferstehung zu machen scheinen. Die ganze Friedhofspartie verleidet den Genuß des herrlichen Tales und man kann zu dem gesunden Sinn und Zeitgeschmack der Parochianen wohl die Hoffnung hegen, daß sie dieser Gespenster-Gesellschaft entgegentreten und dafür sorgen werden, daß die Überlebenden gern die Ruheplätze ihrer abgeschiedenen Lieben besuchen und Blumen auf ihre Gräber streuen.

Das ganze lange liebliche Tal, welches aus Norden gegen Süden allmählich nach dem entfernten Fichtelberg ansteigt und von der Sehma durchwässert wird, hat die freundlichen Dörfer

Sehma, Cranzahl und Neudorf

(letzteres in älteren Zeiten Kraksdorf geheißen) aufgenommen, durch welche eine Chaussee läuft. Über beiden Seiten der ziemlich flachen Talwände ziehen sich gutgehaltene Täler hinaus, auf welchen, nächst den gewöhnlichen Körnerfrüchten, auch viel Flachs gebaut wird, wodurch, sowie durch den Verkehr des gewerbreichen Annaberg und Buchholz, der Unterhalt der Einwohnerschaften hauptsächlich gesichert wird. Das schöne, einladende Erbgericht in Sehma, mit seinem schmucken Tanzsaal, ladet die Umgegend öfters zu seinen Konzerten und Bällen ein, wird außerdem auch deshalb sehr lebendig gefunden, weil die Unzulänglichkeit der Quartiere in Buchholz viele Arbeiter nach dem nachbarlichen Sehma zu drängen pflegt.

Wer ein Freund der Forstbotanik ist, der vergesse nicht den freundlichen Oberförster Müller in Neudorf und mit ihm seine Kulturen und seinen Pflanzgarten zu besuchen. Letzterer gewährt ein um so größeres Interesse, als man in einer solchen rauhen Gegend die große Masse Laubholzpflanzen in freudigem Wachstum nicht vermuten kann.

Kretscham an der rothen Sehma,

gemeinhin „Kretschamrothensehma“ genannt, erreicht man von Neudorf aus über einen ziemlich hohen Berg in einer halben Wegstunde. Das Erbkretscham mit seinen Freiheiten und Rechtsamen liegt an einem kleinen Bach, welcher in den Torflagern der Luxheide entspringt, bräunlich gefärbtes Wasser führt und deshalb die rothe Sehma genannt wird. Um das Bauwerk dieses Kretscham stehen noch etwa 9 bis 10 löschpapiergraue hölzerne Häuschen und schauen trübsinnig dem engen Kranz der Fichtenwaldungen, von welchen sie umgeben werden, nach allen Richtungen entgegen. So anmutlos indessen diese winzige Kolonie sein mag, so hat sie doch insofern ein Interesse, als dieses Erbkretscham lange Zeit für den Ort gegolten hat, wo im Jahre 1455, den 8. Juli, Prinz Albert durch den Köhler Georg Schmidt (nach der Zeit Triller genannt) aus Kunz von Kaufungens Räuberhänden seine Freiheit wieder fand. Die Gerechtsame des gedachten Kretschams erklärte man für eine Belohnung der rühmlichen Tat, weil man außerdem dafür gar keine Veranlassung auffinden konnte. Dieser Irrtum ist nun längst berichtigt. In der Mitte des sechzehnten Jahrhunderts verkaufte Wolf von Schönburg diesen Erbkretscham an den „Ehrbaren Hannß Prenner, Bürger zu Nürnberg“, für 130 fl. – mit dem Vorbehalt, daß derselbe bei der Grafschaft Hartenstein zu Lehen gehen solle. Und als Cornelius Eberwein und Casper Seligmann in den Besitz dieser Realitäten kamen, erhielten diese erst den 27. Jun. 1661 landesherrliche Konzession zur Erbauung eines Malzhauses, weil Kurfürst August den oberen Teil der Grafschaft Hartenstein von Wolf und Hans von Schönburg schon im Jahr 1559 an sich gekauft hatte.

In der Nachbarschaft dieses mit Fichten eingehegten trübsinnigen Kretschams sind gleichwohl einige interessante Punkte für Mineralogen, nämlich ein schon lange verstürzter Bruch von schönem weißem Marmor, von welchem ein großer Teil als Trottoirs in der katholischen Kirche zu Dresden verwendet worden ist. Auf seinen Spaltungsflächen trifft man dann und wann seladongrünen Tremolith. Mannigfaltiger sind aber die Vorkommnisse auf einer etwa eine Viertelstunde gegen Süden gelegenen Grube – „Gottes Segen am Stümpel“. Hierher gehören die schönen Pistazite, welche an Arendal in Schweden erinnern, edler Granat, Zoisit, der cubische Quarz, Rutil, auch, obschon seltener, gelb Menakerz und dergleichen mehr. Die Lager-Vorkommnisse, welche in körnigen Kalkstein eingeschoben sind, werden steinbruchartig bebaut und als Zuschläge bei den nachbarlichen Hammerwerken benutzt.

Die mächtigen Kalksteinlager sind weit verbreitet und ziehen sich gegen Osten auf einem Gebirgsrücken hin, streichen bei Bärenloh, wo die fiskalischen Brennereien sind, zu Tage aus und bilden daselbst ein großes Stück Unterlage der dortigen Chaussee.

Eine Stunde Wegs von hier ruht

Oberwiesenthal

(ursprünglich – Neustadt – geheißen) wie ein gutgeartetes Kind im Schoß der Mutter, am östlichen Abhange des Fichtelberges, zwischen dem Zechen- und Jungferngrund mit seinen 1800 Einwohnern, welche in 200 und etlichen Häusern wohnen. Die Häusergruppe ist in geradlinige Gassen abgeteilt, wie Gartenbeete mit ihren Furchen, was, da die Wohnungen großen Teils ein hübsches Äußere und bequemliche Räume im Innern haben, dem Städtchen ein einladendes Aussehen gewährt. Eine namhafte Menge Nadler, Posamentierer, Gerber und andere Handwerker machen den Nahrungsstand des Ortes aus, der durch die Jeremias Richtersche Tabakfabrik, Errichtung eines Königl. Justitiariats und die Schöpfung einer Chaussee nach Karlsbad, nur noch mehr gewonnen hat.

Mit diesem Städtchen und hinter selbem steigt gegen Westen der Fichtelberg 3795 Fuß über das Meer empor, dessen kahler Scheitel, meist von Wolken bedeckt, seit langen Jahren her durch einen unverständigen Holzschlag den Wiederanflug entbehrt. Wäre jedoch der Gipfel dieses Berges mit Nadelholz bewachsen, so würde man die wunderhübsche Aussicht nach allen Weltgegenden sehr beschränkt finden. So schaut das Auge gegen Osten nach dem Leutmeritzer Kreise in Böhmen, wo sich gesegnete Fluren um Basalt-Trachit und Porphyrberge lagern; weit näher der Kupferberg mit seiner Kapelle. Gegen Süden erkennt man deutlich den bayerschen Fichtelberg in seinen blaßblauen Umrissen; wogegen nach West und Nord bei Weitem zum größern Teil der Blick über unabsehbare Waldungen, welche wie riesenhafte Heuschober in halbkuglige Pyramiden gegliedert sind, ermattet und verschwimmt. Die Gegend von Karlsbad wird durch den Keilberg in Böhmen, welcher mittelst eines flachen Sattels mit unserm Fichtelberg in Verbindung steht, verdeckt.

Die kristallnen Quellen mehrerer Flüsse, als die des Schwarzwassers, des Kaffbachs, der weißen Sehma, der Pöhla, der Mittweide und anderer mehr, rieseln aus den Abhängen des meist aus Gneus bestehenden und mit interessanten Wackengängen durchsetzten Fichtelberges hervor. Auf den gedachten Gängen wurden in früheren Jahren reiche Erze gewonnen und noch jetzt treibt man Bergbau, im sogenannten Zechengrunde, darauf. Letzerer ist ein sehr enges und tief eingeschnittenes Tal, in welchem das kleine durch Bergbau erschrotene Gewässer fließt, welches Sachsen von Böhmen trennt. In dieser Schlucht finden sich noch die Ueberbleibsel von Pochwerken, Wäschen und Kauen, als Zeugen eines namhaften Bergbaues in der frühern Zeit, und da, wo das Tal plötzlich ansteigt und mit den Bergrücken ausläuft, steht noch ein eingeklemmtes Zechenhäuschen, wohin in den kurzen Sommertagen bisweilen Gesellschaften ziehen, um Bier zu trinken und Kegel zu schieben. Die Kegelbahn hat das Sonderbare, daß die Kegel in Böhmen stehen und von Schiebern in Sachsen zum Fallen kommen. Die Schneemassen häufen sich zur Winterszeit gar sehr und bisweilen unglaublich hoch an. So hatte z. B. der Winter vom Jahr 1843 zu 1844 eine solche Menge Schnee unter Sturmwind geliefert, daß zu mehrern verschneiten Häusern Tunnel und Stollen getrieben wurden, um dem lebendigen Inhalt Ein- und Ausgang zu verschaffen. Eine Nische wurde in eine Schneemasse gegraben, deren Inneres auf einer Colonade von Schnee-Pfeilern ruhte. Sie wurde Abends beim Punschgelage illuminiert. Man kann den eigentlichen Winter, wenn die üble Witterung denselben ankündigt und verabschiedet, gegen sechs Monate veranschlagen. Gleichwohl herrscht auf Feldern und Wiesen eine außerordentliche Vegetation; die Saaten, drei bis vier Wochen später gesäet als in den mildern Gegenden, haben diese gleichwohl in sechs bis sieben Wochen erreicht, wo nicht gar übertroffen. Darum hat man auch die östliche Seite des Fichtelberges weit über drei Viertel seiner Höhe urbar gemacht. Die Wiesen längst der Pöhla (Biela) hinab sind dreischürig; obschon das zweite Grummet nicht immer zum Füttern für das Vieh gebraucht werden kann, so gibt es doch Streu für dasselbe. Darum ist auch die Viehzucht ansehnlich und gut gelegene Grundstücke erhalten sich im hohen Preise. Laubhölzer gibt es nicht, wenn nicht die von Stürmen gebeugten Vogelbeerbäume (Sorbus aucup.) und einiges verkrüppeltes Strauchwerk dafür einstehen dürfen. Und da es gleichwohl im Sommer Stare gibt, so trifft man allerwärts für ihr eheliches Glück Kästen an Stangen und Hausgiebeln angenagelt.

Das Pöhlawasser, welches, wie bereits gedacht, Sachsen von Böhmen trennt, ist in seinem Meanderlauf nicht viel über eine Elle breit: denn es küssen sich die Blumen beider Ufer; das dies- und jenseitige Geflügel der Wälder und Fluren begattet sich und zieht mit nie ermüdender Zärtlichkeit ihre Jungen auf, ohne daß über ihre gemischten Ehen und über die Erziehungsweise ihrer dem Neste erwachsenen Kleinen ein Federkrieg entsteht, weil es vernunftlos sein würde. Ihr armen Menschen! könnt ihr euch eure Geistesarmut und durch den toten Glaubenswust so viel herauswühlen und euch den Gesang der Lerche erklären, den sie nach den Wolken trägt? Habt ihr über die Oekonomie der Bienen und Ameisen nachgedacht und ist euch der Künstler bekannt, der unter tausendfachen Formen und Schattierungen den Schmelz auf die Blumen zeichnet? Wißt ihr, wer die Blitze aus den Wetterwolken schleudert und im Donner spricht, daß die Erde dröhnt, und wer die Sonne aus ihrem Gezelt hervorgehen heißt, daß sie versöhnend ihre Bahn um den Erdkreis wandle und Segen und Gedeihen allen Wesen erteile?

(Fortsetzung folgt.)

Erzgebirgische Heimatblätter Nr. 13 – Sonntag, den 27. März 1927, S. 1