Aus der Sagenwelt des Erzgebirges.

Die weiße Frau vom hohen Stein.

Der Hohe Stein ist der letzte Pfeiler am südwestlichen Ende des Erzgebirges. Zackige Felsen bedecken seinen Gipfel, und die Sage erblickt in den grauen Steinen ein zu Fels gewordenes Schloß, dessen gewalttätiger Besitzer vor langen Jahren von einem Greis verwünscht worden ist. —

Heiße Mittagsglut brütete über dem Hohen Stein. Das war ein Flimmern und Zittern über Fels und Wald und Wiese, daß es aussah, als schlage ein endloses Feuer seine Zungen aus dem heißen Boden heraus. Sommerliche Müdigkeit lag über der weiten Natur. Die buntgefleckten Rinder, die drunten auf der Talwiese während des Vormittags die saftigen, taufeuchten Kräuter gerupft hatten, langen im Schatten des Waldbrandes, kahlten gemächlich und schlugen mit den Schweifen nach den lästigen Fliegen, die in dichten Wolken die ruhenden Tiere umschwärmten.

Auch der jugendliche Hirte, ein blauäugiger, ärmlich gekleideter Knabe, hatte den Schatten aufgesucht. Unter einem Haselbusch, dessen breite Blätter den Sonnenstrahlen den Weg versperrten, hatte er sich auf die Erde gelegt und blickte träumend und sinnend hinauf nach dem Hohen Stein, auf dem die Trümmer des verwunschenen Schlosses in trotziger Ruhe lagen. Sollte es denn wahr sein, was die Leute erzählen, daß im Innern des Berges ein mächtiger Pferdestall sei, in dem die edlen Rosse des verwunschenen Ritters gehalten würden? Sollte es wahr sein, daß unter den Felsen ein steinerner Saal sei, in dem ganze Kästen voll Gold und Silber und Edelstein lagerten? O, wenn das wahr wäre, und wenn einer den Weg in diesen Saal wüßte – wie reich könnte man da mit einem Griff werden! Dann brauchte man nicht mehr Kühe für eine geizige Bäuerin zu hüten, die die Brocken in die Schüssel zählt und das karge Brot mit mürrischem Gesicht dem Gesinde zuschneidet!

Und während der Knabe so verträumt die Gedanken schweifen läßt, da kommt auf einmal eine hohe, schlanke Frauengestalt auf ihn zu. Weiß ist ihr Gewand, lang und blond das wallende Haar.

Der Knabe springt auf und faßt unwillkürlich in das Geäst des Haselstrauches, als wolle er Schutz suchen vor der fremden Gestalt.

„Fürchte dich nicht, mein Kind!“ sagt die Frau in freundlichem Ernst, „ich will dich nur um ein wenig Brot bitten, mich hungert.“

Die Worte klangen so vertrauenerweckend, daß dem Knaben die Furcht schwand wie Märzenschnee vor der Mittagssonne.

„Ich habe nur wenig Brot,“ sagte er, „denn meine Bäuerin mißt mit kurzer Elle, aber ein Stücklein will ich dir schon geben!“

Er öffnete seinen Brotbeutel, nahm das Brot heraus und zerbrach es in zwei Stücke. Das eine gab er der weißen Frau. Die nahm es und verbarg es in ihrem Mantel. Aus den Falten des Gewandes brachte sie eine kleine Gerte und sagte zu dem Jungen:

„Nimm diese Rute und verwahre sie gut; und wenn deine Bäuerin dir morgens das Brot für den Tag schneidet, so berühre sie mit diesem Rütlein!“

Aber noch ein anderes und, wie es dem Knaben schien, wenig wertvolles Geschenk gab sie ihm. Sie griff ins Geäst des Haselbusches, streifte einige Blätter ab und überreichte sie dem jungen Hirten mit den Worten:

„Hier dieses Laub behalte zu eigen. Es wird dir viel Freude bereiten!“

Im nächsten Augenblick war die holde Erscheinung verschwunden.

Der Knabe steckte die Blätter ein und behielt sie bis zum Heimtreiben in der Tasche. Als er sich auf dem Heimweg befand und sich der Blätter wieder erinnerte, ergriff er sie und streute sie in die Luft. Der Abendwind riß sie fort und warf sie ins Gras.

Daheim freilich machte der Hirte eine merkwürdige Entdeckung. Drei Blättchen, die zufällig ihren Platz in der Tasche behauptet hatten, waren in blitzende Goldstücke verwandelt worden. Nun wandte der Knabe die Tasche um und durchsuchte jedes Fältchen nach rotem Golde – vergeblich. Es nützte ihm auch nichts, daß er sich sofort aufmachte und die Stelle auf dem Wege suchte, wo er die Blätter achtlos davongeschleudert hatte. Wohl sah er hie und da ein verlorenes Blättchen am Wegrain liegen, aber sie waren welk und weich wie andere Blätter. Von Gold keine Spur! Das war sehr bedauerlich. Aber mit der Beweglichkeit der Jugend tröstete sich der Knabe rasch über das entgangene Glück, besaß er doch noch die Wunderrute, die ihm nach der Angabe der weißen Frau Tag für Tag ein kräftiges Butterbrot mit Quark und Speck, vielleicht sogar mit Wurst, Schinken und Eiern sichern sollte! Die Rute wollte er umso sicherer hüten.

Schon am nächsten Morgen, als die Bäuerin ihm das Tagebrot zurecht machte, versuchte er die Kraft der Rute. Er stellte sich hinter die Frau und berührte ihren Rock unauffällig mit der Gerte. Sofort fuhr ein ganz anderer Geist in die geizige Herrin. Sie schnitt und schnitt vom Brote, bis der Knabe das Häuflein für groß genug erachtete. Eine weitere Berührung ließ die Bäuerin nach dem Käsetopf greifen. Aber das war nicht nach dem Geschmack des Buben. Er hielt das Rütlein hinter sich. Sofort wanderte der Käsetopf an seinen Ort. Wieder wandte der Knabe sein Zaubermittel an, da langte die Bäuerin nach einem saftigen Schinken. Und nun wirkte die Rute Wunder. Eine Scheibe nach der anderen schnitt die Frau herunter, und sie konnte sich vor Wohlwollen nicht genug tun.

„Ein so fleißiger Junge muß auch gut zu essen bekommen,“ sagte sie gutmütig. Und der Hirt war ganz ihrer Meinung.

Als das Hütebrot in seiner ganzen Appetitlichkeit und Reichhaltigkeit glücklich im Brotbeutel geborgen war, ging der Bursche hinaus in die Scheune und legte die Zauberrute auf einen Tramen. Dann erst begab er sich in den Stall, löste die Ketten der Rinder und trieb aus.

Nun hatte er immer gute Tage. Ja selbst für die anderen Hütejungen fiel dann und wann ein Stück Speck oder eine Scheibe Wurst ab, und alle beneideten den schlauen Burschen um die gute Herrin, die so mütterlich für ihren Hütejungen sorgte.

Aber eines Tages hatte alle Herrlichkeit ein jähes Ende.

Eine Magd der Bäuerin hatte den Auftrag erhalten, die Scheune zu kehren, gerade als der Knabe auf der Weide war. Sie besorgte das so gründlich, daß sie auch die Seitenbalken, die Tramen, abfegte. Als sie das Rütlein fand, zerknickte sie es und warf es mit dem anderen Unrat auf den Kehrichthaufen. Als der Knabe am anderen Morgen zur Frühstückszeit nach dem Zaubermittel suchte, war es verschwunden. Nun war die schöne Zeit vorbei. Das Hütebrot wurde von Tag zu Tag knapper, und Schinken und Wurst sah der Hirte nur noch zuweilen im Traum. Zuletzt hörte auch das auf.

Wenn der Knabe um die Mittagszeit wieder unter dem Haselbusch lag und sinnend und träumend nach dem zackigen Grat des Hohen Steins blickte, dann gedachte er sehnsuchtsvoll der vergangenen Tage und hoffte, die weiße Frau werde sich ihm wieder zeigen und ihm ein neues Rütlein bescheren. Aber die Geheimnisvolle erschien nicht wieder in seiner Nähe. Zuweilen war es dem Knaben, als wenn die Gestalt in der Ferne vorüberschwebte und strafend die Hand gegen ihn erhöbe. Dann verkroch er sich tief unters Geäst des Strauches und schloß die Augen.

Erzgebirgische Heimatblätter Nr. 38 – Sonntag, den 19. September 1926, S. 2